Die historische Kneipentour: Vom Hunnental zum Schützenhof - virtueller Besuch der Kneipen, Wirtschaften und Gasthäuser im Selzen von 1906.
Gemeinsam trinken und gesellig sein ... das war den Selzer wohl schon immer wichtig. Dafür spricht die Anzahl der Gasthäuser im frühen 20. Jahrhundert, aber auch andere historische Belege. Nur zwei Beispiele:
Schöne Haare und großer Durst
Nachdem der Mainzer Geschichtsforscher Ludwig Lindenschmit (er wird uns noch öfter in anderen Blogbeiträgen begegnen) die Frankengräber in Selzen geöffnet und die reichen Funde analysiert hatte, kam er 1848 zu folgender Einschätzung:
in den Gräbern von Selzen sind die Franken nicht als prunkliebende Sklavenhalter oder verachtete, entwaffnete Besiegte zu sehen, sondern als ...
... „wohlhabende, kriegerische Landbewohner, mit Waffen und Werkzeugen des Weinbaus und der Kochkunst ausgestattet, die, nach germanischer Sitte, auf die Pflege ihrer langen Haare hielten, gerne tranken, und mit dem wenigen Geld, das sie hatten, Schmucksachen aus Bronze, Glas und dünnem Silber aus den gallischen Werkstätten kauften.“¹
Nie ungekämmt aus dem Haus gehen, sagte mir meine Oma auch immer.
Ludwig Lindenschmit hatte neben Kamm und Schere sehr viele Trinkbecher aus Glas in den Gräbern gefunden, darunter auch den berühmten Selzer Rüsselbecher
(siehe hier mehr), und hat daraus seine Schlüsse gezogen.
Fressen, Saufen und Spielen in Selzen
Einen anderen Hinweis entdeckte und entzifferte der Heimatforscher Walter Schwamb aus Köngernheim bei der Durchsicht alter Protokollbücher, in welchen durch die reformierte Pfarrei seit 1695 kirchliche und weltliche Angelegenheiten notiert wurden.
„Ein Kapitel aus seiner Amtszeit überliefert Johann Georg Cöster, Pfarrer in Selzen (1718-1723) mit der Eintragung vom Fressen, Saufen und Spielen im Ort, das solche Ausmaße annahm, dass es schließlich auch bei Oberamt in Alzey bekannt wurde und dasselbe veranlasste … dagegen einzuschreiten.“ Der Schultheis und die Gerichtsleute wurden 1718 angewiesen, ein solches Unwesen zu unterbinden, dazu die Wirtshäuser zur vorgeschriebenen Stunde zu schließen.²
Diese Drohung kümmerte die Selzer jedoch wenig, das Saufen, Fressen und Spielen ging weiter, so dass das Oberamt Alzey 5 Jahre später Vergehen mit der Zahlung von zehn Reichstaler belegte. Begründung hierfür aus der wörtlichen Abschrift eines Schreibens vom 16. März 1723:²
„Nachdem man mißfällig vernommen, was maßen die Churfürstlichen Unterthanen zu Selzen dem ergangenen Oberamtsbefehl zuwider, mit Freßen und Sauffen, sowohl Tag als Nacht auf Sonn- und Feyertäge continuiren (fortsetzen).“³
Kneipentour 1906
Dieser sympathischen Selzer Tradition folgend, begeben wir uns heute auf eine virtuelle Kneipentour durch das Selzen des Jahres 1906. Auf ein Bier und Wein in unseren vergangenen Kneipen, Wirtschaften und Gasthäuser.
Nüchtern „Im Hunnental“
Wir starten unsere Kneipentour im Jahr 1906 am Bahnhof. Seit nun schon 10 Jahren existiert eine Zugverbindung von Bodenheim über Selzen nach Alzey und der Bahnhof Selzen-Hahnheim. Das Erste was Ankömmlinge nach Durchqueren der Empfangshalle sehen ist - wie praktisch - das Gasthaus „Zum Hunnental“ vis-a-vis dem Bahnhof.
Das ist unsere erste Station und unser erstes virtuelles Bier, gebracht von einer „soliden Bedienung".
Nach der ersten Erfrischung geht es über die erst 1899 fertiggestellte "Gemeindeverbindungsstrasse" (Bahnhofstrasse) von Hahnheim Richtung Selzen. Wir biegen rechts in den Wahlheimer Weg (jetzt auch Bahnhofstrasse) und dann - bei den ersten Häusern - rechts in die Gaustrasse.
Etwas weiter geradeaus - an der "Gussepump" (Ecke Tränkgasse und Domhofstrasse) - sind wir dann im Epizentrum der Selzer Geselligkeit angelangt. In diesem Bermudadreieck mehrerer Kneipen befindet sich logischerweise auch der Kerbeplatz (bis 1938). Der Verkehr auf der Straße ist schwach, er spielte keine Rolle.
Mit 0,24 Promille in den "Pfälzer Hof"
Wir kehren zuerst im Gasthaus "Pfälzer Hof" (heute Gaustr. 8) ein.
Kurios: Bei den Feierlichkeiten zur Einweihung der Zugstrecke 1896 bewilligte der Gemeinderat "Freimusik" auf Kosten der Gemeindekasse. Allerdings verfügte der Rat, dass die Hälfte der Musiker im "Pfälzer Hof" und die andere Hälfte, je vier Mann, in der "Krone" spielen sollten. Zudem hat sich hier vor 3 Jahren der Turnverein 1903 gegründet.
Der Pfälzer Hof hat im ersten Stock einen Tanzsaal. Wir trinken wegen den vielen Erinnerungen zwei Bier und gehen zur nächsten Lokalität.
Mit 0,72 Promille "Zum Schützenhof"
Wir jagen die Enten zu Seite und überqueren die Gaustrasse Richtung Domhof. Links vor dem Tor des Domhofs betreten wir die Wirtschaft "Zum Schützenhof"
(Domhofstr. 6), von der Witwe Balthasar Binzel VI als "bestens empfohlen" gehalten.
Wir verzichten auf das "prima Glas Bier" und lassen uns entsprechend der Anzeige "reinen Wein" einschenken.
Der Schützenhof besitzt ein zweites Gebäude (heute Vereinsheim des Männergesangsvereins) mit einer Kegelbahn und einem Tanzsaal. Viele Selzer werden hier noch Tanzen lernen, eine andere Generation im einzigen örtlichen Kino (bis etwa 1960) seinen ersten Kinofilm sehen können. 1925 wird sich der Radsportverein im Schützenhof gründen und 1926 "im Säälchen" sein erstes Saalsportfest veranstalten.
Jetzt, 1906, können wir noch nicht ahnen, dass der Schützenhof eines Tages inoffiziell "Bei de Wertsches Anna" heißen wird. Die Namensgeberin wird vor Kunden-Augen den Eislöffel vor der nächsten Kugel ablecken und jedem eine ins "Knick" geben, der den Fernseher berührt. Aber ... das ist eine andere, in der fernen Zukunft liegende Geschichte.
Unwissend was die Zukunft bringen wird, trinken wir aus und gehen.
Mit 1,04 Promille in die "Krone"
Wir überqueren abermals die Gaustrasse und gehen in die "Krone" (Gaustr. 14). Hier fanden 1894 die Nach-Feierlichkeiten zur Einweihung der Schule in der Kaiserstrasse statt. Wir vermissen die 4 Musiker der 8-köpfigen Kombo von der Bahneinweihung 1896 und leeren unser Bierglas.
Kein Bier im "Darmstädter Hof"
Wir gehen zum "freien Platz" Ecke Gaustrasse und Kaiserstrasse und bedauern den Abriss des alten Rathaus 1875. An seiner Stelle steht jetzt ein Ehrenmal für die Kriegsteilnehmer 1870/71. Alle Selzer Soldaten sind heil heimgekehrt. Wir lesen die Inschrift "Den Tapferen zur Ehre, den Nachkommen zur Mahnung" und können noch nicht wissen, das in 8 Jahren wieder Selzer in den Krieg ziehen werden.
Gegenüber dem Denkmal befindet sich in der Kaiserstrasse 4 eine 1864 zum Gasthaus "Darmstädter Hof" umgebaute Hofanlage. Ich weiß nicht, ob der Darmstädter Hof 1906 noch Gäste bedient und wir ziehen daher weiter.
Mit 1,28 Promille zur "Wirtschaft von Paul Steib"
In der Kaiserstrasse 11 haben wir mehr Glück und besuchen die Wirtschaft von Paul Steib.
Wir bestellen uns einen "reingehaltenen Selzer Wein eigenen Wachstums" und nehmen auch ein gutes Glas Bier aus der Elefanten-Brauerei vormals L. Rühl, Worms.
"Bier auf Wein, das ist fein".
Ausgetrunken schießen wir etwas unkontrolliert über die Kaiserstrasse, macht aber nix, das Tor der nächsten Kneipe ist offen und weit.
Mit 2,08 Promille zur "Wirtschaft von Chr. Binzel V"
Die Gastwirtschaft in der Kaiserstrasse 18 wird später einmal "Oligmühle" heißen, weil sich dort früher eine Ölmühle befand.
Dann wird hier auch der erste Billardtisch von Selzen stehen.
Wir lassen uns ein Mainzer Aktien-Bier schmecken und setzen unseren Weg fort.
Mit 1,84 Promille zur "Wein- und Bierwirtschaft Andreas"
Wir gehen zurück und nehmen die Lattengasse. Dort fällt torkeln fast nicht auf. Wir gehen an der evangelischen Kirche vorbei und nehmen den Weg auf dem Alten Friedhof. Seit wenigen Jahren, seit 1898, gibt es einen neuen Friedhof außerhalb des Ortes. 1882 wurde die Friedhofsmauer und ehemalige Ortsbefestigung durchbrochen, um einen Zuweg zur katholischen Kapelle von 1876 zu erhalten. Diesen nehmen wir und gelangen rechts haltend wieder zur früheren Wassergasse. Richtung Dorfmitte erreichen wir unser letztes Ziel. Die "Wein- und Bierwirtschaft Andreas" in der Gaustrasse 54.
Wir bestellen bei der "guten Bedienung" ein "prima Aktien-Bier".
Was wir jetzt, 1906, noch nicht wissen können:
Von den besuchten Gastwirtschaften wird diese unter dem Namen "Zum Selzer Frosch" - mit einigen Unterbrechungen und Konzeptänderungen - als Einzige auch 2019 noch bestehen. 1959 wird hier der Würfelklub "Die drei Dicke" gegründet. Im selben Jahr wird von dem Maler Roth aus Walluf ein spektakuläres Wandbild gemalt. Aber auch das ist eine andere Geschichte.
Wir genehmigen uns noch einen "reinen Wein eigenen Wachstums" und gehen ...
... mit 2,4 Promille nach Hause.
Anmerkung des Autors:
Ich muss zugeben, dass meine Kenntnisse über die Geschichte der frühen Gasthäuser in Selzen leider noch recht lückenhaft sind. Deshalb würde ich mich über weitere Information oder Bilder freuen, die ich gerne hier oder an anderer Stelle nachtragen möchte.
Quellen:
¹ Das germanische Todtenlager bei Selzen in der Provinz Rheinhessen, Gebrüder W. und L. Lindenschmit, 1848, Seite 48
² Vgl. Festschrift 250 Jahre Evangelische Kirche Selzen, Walter Schwamb, Seite 38
³ Festschrift 250 Jahre Evangelische Kirche Selzen, Walter Schwamb, Seite 38
⁴ Anzeigen (Fotos) aus dem Festbuch anlässlich des 25-jährigen Stiftungsfestes des Männergesang-Vereins Selzen, 09. - 11. Juni 1906.
Des Weiteren:
Vgl. Jubiläumsbuch zur 1200-Jahrfeier der Weinbaugemeinde Selzen, 1982
Vgl. Marschall Chroniken, Selzen - Geschichte und Geschichten einer Selztalgemeinde, 2007
Vgl. Festschriften der Selzer Vereine, unterschiedlichster Jahrgänge
Comments