... vom Abtrocknen ganz zu schweigen. Der Rüsselbecher aus Selzen.
Date mit einer Selzer Berühmtheit und dem bedeutendsten Fundstück aus der Frankenzeit.
Vom Grab in Selzen zum Museum in Mainz
Wer die Internetseite des Landesmuseum Mainz besucht, wird auf der Startseite "Frühes Mittelalter: Die Römer sind weg - die Franken kommen" unter anderem folgenden Hinweis finden:
"Nahezu alle ländlichen Siedlungen, die heute in Rheinhessen bestehen, sind bereits in fränkischer Zeit gegründet worden, wie die Existenz von mindestens einem Gräberfeld in entsprechender Ortslage belegt. Sie wurden bereits teilweise im 19. Jahrhundert ausgegraben, wie u. a. auch der Friedhof von Selzen in den Jahren 1845/46. Bereits 1848 konnten die Ausgräber Ludwig und Wilhelm Lindenschmit die Ergebnisse in der Publikation „Das germanische Todtenlager bei Selzen“ präsentieren, womit erstmals ein fränkisches Gräberfeld vorgestellt wurde, das grundlegend für die Typologie und Chronologie dieser Zeitstellung war." ¹
"Die Funde aus Selzen, wie beispielsweise ein gläserner Rüsselbecher, bilden bis heute einen wichtigen Bestandteil der Mainzer Sammlung." ¹
Zu Ludwig und Wilhelm Lindenschmit, ihre Ausgrabungen von 1845/46 und die gemeinsame Publikation von 1948 werde ich noch zahlreiche Beiträge folgen lassen. Heute möchte ich lediglich versuchen, folgende Fragen zu beantworten:
Was ist ein Rüsselbecher und wie wurde er hergestellt? Wann, wo, bei wem und wie wurde er gefunden? Was ist so besonders an diesem Rüsselbecher? Wo befindet er sich jetzt?
Wie kommen die Rüssel in den Becher
"Der Rüsselbecher ist ein meistens bauchiger Glasbecher oder Pokal des 6. bis 7. Jahrhunderts. Charakteristisch für diese Glasform sind die aus der Seitenwand des Glases ausgezogenen und herabhängenden, rüsselähnlichen Verzierungen. Diese so genannten Rüssel sind regelmäßig um das gesamte Glas, oft auch in zwei Reihen versetzt, übereinander angeordnet." ³
Diese frühmittelalterliche Glasbecher setzten eine alte römische Tradition fort, nämlich die Gefäße durch Umformen der Wände zu verzieren. Dieser besondere Glastyp wird ferner dadurch charakterisiert, dass er stets an eine besondere Form, den Glockenbecher, gebunden ist. Wesentlich ist dabei, dass diese "Rüssel" hohlgebildet sind, so dass bei Füllung der Becher der Wein auch in sie eindringen kann. Auffallend auch der oben und unten aufgelegte gläserne Zierfaden. ⁴
Nur scheinbar ein handwerkliches Geheimnis ist die Herstellung solcher Rüsselbecher, vielmehr bedurfte es nur eines einfachen Tricks, um die Verzierungen herzustellen, die man gerne als Rüssel deutet. Die Herstellung setzt in der Werkstatt zwei Glasbläser voraus. Noch während sich der Glaskörper an der Pfeife des Glasmachers befand, gab ein Gehilfe einen heißen Glastropfen auf den Becher. Dabei wurde an dieser Stelle die Glaswand erweicht, und wenn der Glasmacher nun in die Pfeife hineinblies, beulte die Becherwand an der TropfensteIle aus. Der Gehilfe seinerseits zog mit einer Pinzette den Tropfen lang aus und setzte ihn am unteren Gefäßrand an. ⁴
Der Selzer Becher, ebenfalls zu datieren in das 6./7. Jahrhundert n. Chr., misst ca. 11,5 x 18 cm und ist aus gelblichgrünem Glas gearbeitet. Vor einigen Jahren konnte ich eine - dem Selzer Rüsselbecher sehr ähnliche - Nachbildung erstehen. Ich muss wirklich sagen, das Glas liegt fantastisch in der Hand und ist optisch ein Genuss. Gut ... ok ... das trinken daraus ist etwas für "Stiefelglas"-trinkende Experten. Mein Glas:
Das Erbe des Kriegers
Anders als zumeist angenommen, hatte nicht Ludwig Lindenschmit in seinen beiden Grabungen von 1845 (7 Gräber) und 1846 (21 Gräber) das Grab mit dem Rüsselbecher geöffnet. In der Gemarkung "In der Hayer" gegenüber der Mühle waren in der Vergangenheit immer wieder Gräber gefunden, geöffnet und leider auch zerstört worden. Georg Karl Krafft, Lehrer von 1822 bis 1828 an der evangelischen Schule und von 1828 bis 1847 an der Gemeindeschule, wurde darauf aufmerksam, beaufsichtigte die Erdarbeiten, sicherte die Fundstücke von 6 Gräbern und benachrichtigte den Direktor des historischen Vereins in Mainz. Dr. Josef Emile erwarb die bereits gefunden Altertümer und überzeugte den Vorstand des historischen Vereins Mainz die begonnene Ausgrabung mit allen erforderlichen Mittel zu vollenden. Den Auftrag erhielt Ludwig Lindenschmit. ⁵
In der Publikation "Das Germanische Todtenlager bei Selzen in der Provinz Rheinhessen" beschrieb Ludwig Lindenschmit auch die von Lehrer Krafft geöffneten Gräber. Dazu gehörten auch die Gräber eines reichgeschmückten Kriegers von bedeutender Körpergröße (1,75m!) und seines Pferdes.
"Unter dieser Masse (von dichtem Moder) lagen, von der Last des Bodens nach der Vermoderung des Schildes zerdrückt, zuoberst die Trümmer eines Beckens von dünnem Bronzeblech und unter diesem wieder ein prachtvoller, großer Glasbecher, in Stücke zerbrochen. Dieses ... Gefäss ist nun wieder hergestellt, freilich nicht genügend, doch so weit, dass man seine originelle und eigenthümliche Form vollständig erkennen kann." ⁵
"Es ist bei weitem der kunstvollste aller zahlreich hier gefundenen Becher und überhaupt, mit Ausnahme der römischen, das merkwürdigste Glasgefäss, welches in unserer Provinz noch zu Tage kam." ⁵
Das große Vergessen
Im Jahresbericht an den Vorstand schwärmt Ludwig Lindenschmit von der "ungewöhnlichen Form und seltener Kunstfertigkeit" des Glasgefäßes. Warum ist das so bemerkenswert?
Viele römischen Städte waren Zentren der Glasproduktion höchster Qualität. Die Wirren der Völkerwanderung und die Übernahme der Herrschaft durch die Franken hatten das Glashandwerk nicht untergehen lassen. Die römische Tradition wurde zunächst fortgeführt und die kunstvollen Gläser weiträumig gehandelt. Das Zentrum der fränkischen Glasindustrie war in Köln oder seiner nächsten Nähe zu suchen.
Der fränkische Rüsselbecher aus dem Selzer Grab ist also nicht nur Zeugnis
handwerklichen Könnens der nachrömischen Epoche, sondern darüber hinaus Beweis
enger Handelsbeziehungen. ⁴ ⁶
Ein solch wertvoller Becher schmückte nicht nur die Festtafel der Franken, sondern zeugte als Grabbeigabe ohne Zweifel von der bedeutenden sozialen Stellung des Verstorbenen, im Selzer Fall wohl ein ranghoher Krieger.
Doch dann gingen Schritt für Schritt die Kenntnisse und Fertigkeiten verloren. Die Trinkglas-Formen wurden weniger und einfacher, bis am Schluss nur noch schlichte Sturzbecher gefertigt werden konnten. Und auch die Qualität des Glases selbst sank. Es wurde nicht mehr so dünn geblasen und die Kenntnisse der Rezepturen für die Herstellung von farblosem Glas ging wohl vorübergehend verloren. ⁶
Und so erscheint der Rüsselbecher wie ein kunstvolles Wunder, bedenkt man, dass für Jahrhunderte die Herstellung eines solch filigranen Glases nicht mehr möglich war.
Besuch einer Selzer Berühmtheit
Am 17.09.2019 habe ich unserem Becher im Landesmuseum Mainz einen Besuch abgestattet. Fündig wurde ich im 1. Stock in der Abteilung "Mittelalter", Raum 1.2.
Mit aufgemaltem Fundort und Inventar-Nummer (würde man wohl heute auch nicht mehr so machen) steht er da, erhöht und damit etwas thronend über all den (natürlich gleichwohl interessanten) fränkischen Gürtelschnallen, Pfeilspitzen, einfachen Trinkbechern, Tonschüsseln, Fibeln, Halsketten, usw..
Unweit davon, Im Raum 1.1, sehenswert und herausragend: Das großartig präsentierte Fürstengrab von Planig mit einem vergoldeten Spangenhelm, almandinverziertem Schwert und weiteren kostbaren Beigaben.
Der Selzer Rüsselbecher und das Fürstengrab ... allein das, für nur 6 Euro (Erwachsene) auf jeden Fall ein Besuch wert.
Quellen:
¹ Vgl. Internetpräsenz des Landesmuseums Mainz. Seite http://www.landesmuseum-mainz.de/sammlung/fruehes-mittelalter/
² Bildarchiv Foto Marburg / Foto: Schmidt-Glassner, Helga; Aufn.-Datum: 1960/1969. Bilddatei-Nr. fm1553444. Bildlink: https://www.bildindex.de/document/obj20144706?medium=fm1553444
³ Seite „Rüsselbecher“ in Wikipedia, die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand 9. Januar 2019. URL: https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=R%C3%BCsselbecher&oldid=184571691
⁴ Vgl. Aus den Kisten in Vitrinen: Interessante Einzelobjekte als Mosaiksteine der Museumseinrichtung. G Biegel, 1981. https://journals.ub.uni-heidelberg.de › index.php › anb › article › download
⁵ Vgl. Das germanische Todtenlager bei Selzen in der Provinz Rheinhessen, Gebrüder W. und L. Lindenschmit, 1848, Seite 2-6
⁶ Vgl. Loseblatt-Sammlung des Archiv Verlags
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