Gaustraße 24: Wo der Trester eine zweite Chance bekam. Ein kleines Haus für Generationen in einem Leben ohne Aldi, Rewe und Co.
Ein Beitrag von Hannelore (Lore) Kappesser im Rahmen der Aktion „Selzer Häuser erzählen“.
Mein Elternhaus steht in der Gaustraße mit der Hausnummer 24. Es hat viel zu erzählen, zum Beispiel über eine Zeit, in der Familiengenerationen beengt aber glücklich zusammen lebten und man sich immer zu helfen wußte.
Wann das Haus erbaut wurde, weiß ich nicht. Mein Vater Karl Binzel hat eine Hälfte des Hauses geerbt und hat im Jahr 1938 die andere Hälfte den Brüdern seines Vater Paul Binzel zum Preis von 1.800 Reichsmark abgekauft. Er wollte das Haus umbauen, aber leider brach dann der Krieg aus und er musste zu den Soldaten. Seit Juni 1944 galt er als vermisst.
Und so lebten in dem kleinen Haus in der Gaustraße meine Großeltern Paul und Maria Binzel, Tante Maria Binzel, Mutter Luise Binzel, meine Schwester Anita und ich.
Der Schrank macht das Schlafzimmer
Meine Großeltern Maria und Paul hatten unten links das Wohnzimmer. Das Schlaf“zimmer“ wurde einfach durch einen Schrank abgeteilt, der ca. 20 cm ins Wohnzimmer ragte. Auf diesem Schrank stand wohnzimmerseitig IMMER ein Krug mit selbstgemachten Wein und ein Glas, das nur einmal die Woche gespült wurde. Die Trauben zum Wein stammten teilweise aus unserem kleinen Weinberg im Mörtel.
Das Letzte aus der Traube geholt
Teilweise?
Um noch ein bisschen mehr Wein erzeugen zu können, holte mein Großvater den ausgepressten Trester gegenüber vom Weingut Götter, heute Werner Best, und weichte ihn mit Wasser ein um ihn danach noch einmal zu keltern.
Dieser Wein wurde zusammen mit dem eigenen Wein in einem Fass in unserem Keller gelagert.
Jeden Tag wurde aus dem Keller ein Krug mit Wein geholt. Das tat dem Wein nicht gut, denn das Fässchen wurde immer leerer und der Wein nicht besser. Aber meinem Großvater schmeckte er trotzdem. Auch ich durfte manchmal probieren, und wie kann es anders sein, es schmeckte mir damals schon.
Mein Großvater rauchte auch „Klöbchen“ (Pfeife) , auch daran durfte ich manchmal ziehen, wenn auch die Pfeife ziemlich verklebt war. Den Tabak stellte er ebenfalls selbst her und so hingen im Hof an dem Balken vom Schuppen immer Tabakblätter zum Trocknen.
Und nicht nur weil ich "trinken und ziehen" durfte ... ich habe meine Großeltern geliebt.
Der Krämer und sein Paul
Vorne im „Dreieck“ wohnten wir. Unten war die Küche, in der früher einmal ein Krämerladen war.
Mein Ur-Opa Christian Binzel betrieb dieses Lebensmittelgeschäft und wurde aufgrund der vielen Binzel im Dorf „Krämer“ gerufen. Und so, wie damals üblich, war sein Sohn, also mein Opa, der „Krämer-Paul“.
Der Eingang zum Laden erfolgte einst durch den Hof. Er wurde später zugemauert.
Schnaps Marke „Stehheisje“
Unter der Treppe zum ersten Stock war das „Stehheisje“ (Stiegenhäuschen), das war eine Fundgrube für mich. Darin befand sich: eingelegter Schinken, Wurst, Butter, Marmelade, eine Flasche Korn und vieles mehr.
Meine Großmutter trank keinen Wein, dafür aber jeden Morgen ein Gläschen Schnaps.
Davon durfte ich allerdings nicht trinken.
Hinter Maschendraht
Im ersten Stock befand sich links das Gauben-Zimmer meiner Tante.
In diesem Zimmer stand vorne ein Schrank , der nur mit Maschendraht verschlossen war, damit Luft rein konnte.
In diesem Schrank befanden sich alles was man nicht gleich verbrauchen konnte und somit nicht im „Stehheisje“ aufbewahrt wurde, unter anderem Eier, Darmwurst, Bratwurst, Schinken, Dosenwurst, Marmelade und etliches mehr.
Ein Bett aus dem Kornfeld
Gegenüber der Gaube war eine Wand mit einer Tür zur Dachschräge, die als Abstellkammer diente. Rechts von der Treppe war ein Durchgangszimmer zur Dreiecksstube, in der wir Kinder schliefen.
Das Durchgangszimmer hatte keine Fenster, da auf beiden Seiten die Dachschrägen abgemauert waren und als Abstellkammern dienten. Diese hatten keine Türen, so dass sich allerlei Ungeziefer darin aufhalten konnten.
In diesem Durchgangszimmer befand sich ein Bett mit einem Strohsack und einer riesigen dicken Bettdecke.
Klopapier und Toilettenlektüre zugleich
Neben dem Haus befand sich im Hof die Toilette mit einem „Plumpsklo“ - natürlich ohne Wasserspülung - und ein Haken mit fein säuberlich geschnittenen Zeitungspapier. Daneben war ein Schuppen, der unterkellert war.
Mein Vater hatte sich eine Werkstatt gebaut, er war Schreinermeister, danach nutzte der Sattler Heinrich Ebert einen Teil der Werkstatt.
Daneben war ein Stall für ein Schwein, eine Ziege, Hühner, Gänse und Hasen. Und natürlich hatten wir im Hof auch eine „Mischdkaud“ (Misthaufen).
Moderne Zeiten
Diesen nicht mehr zeitgemäßen Zustand in unserem Haus wollte meine Mutter ändern und beschloss 1950 mit dem Umbau zu beginnen. Das Geld war knapp und so war - wie auf dem Bild zu sehen ist - zuerst der mittlere Teil dran. Diesen bauten die Maurer Jakob Hinkel und Wilhelm Braun um.
Nach vier Jahren dann erfolgte der zweite Umbau, den Lothar Heigl mit Partner umbaute. Jetzt hatten wir ein wunderschönes Haus.
Jetzt wird schmutzige Wäsche gewaschen
Auch im Hof veränderte sich einiges. Aus dem verbleibenden Teil der Werkstatt wurde ein Bügelzimmer mit einer großen und kleinen Bügelmaschine. Die Leute aus dem Dorf und Umgebung nutzten den Service zahlreich.
Aus dem Stall wurde ein Waschanlage, da die Gemeinschaftswaschanlage der Genossenschaft, wo meine Mutter arbeitete, geschlossen wurde.
Heute ist mein Elternhaus im Besitz meines Neffen.
Ich habe mein Elternhaus geliebt.
Und als ich es dann einer anderen Liebe wegen verließ, war ich doch nie weit weg. Von der anderen Straßenseite aus brauchte ich nur aus dem Fenster zu sehen und war gedanklich wieder im schönen Zuhause meiner Kindheit und Jugend.
Bild-Quelle:
Alle Bilder (außer den Werbe-Anzeigen) aus dem Archiv der Familie Lore Kapesser.
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