Domhofstraße 6: Der Schützenhof (Teil 1) – Das Selzer Wohnzimmer oder die Regentschaft der Spülbürste.
Ein Beitrag von Stefan Bremler im Rahmen der Aktion „Selzer Häuser erzählen“.
Wen von 1960 bis 1987 die Füße in die Domhofstraße 6 trugen, der sprach:
„Ich laaf bei die Wertschesen“, „Ich drink en Schoppe bei de Bingemern“, „Ich gugg amol bei de Tante Anna“ enoi“ aber meist „Ich bin dann mol bei de Modder“.
Geliebtes hat viele Namen
Ja, Anna Bingenheimer hatte es fertig gebracht, als Wirtin des Gasthaus "Zum Schützenhof" aller Selzer Mutter („Modder“) und Tante zugleich zu werden. Diese beiden liebevollen Namen hatte sie sich durch ihr strenges, manchmal resolutes, aber gleichzeitig ebenso mütterliches wie fürsorgliches Bewirten ihrer Gäste verdient.
Eigentlich alle Bingenheimer wurde verkürzt „Bingemer“ gerufen. Bei ihr war der Name aber tatsächlich gleichfalls angeboren wie angeheiratet, denn sowohl ihr Geburtsname wie auch der Nachname ihres Mannes war Bingenheimer. Also ... Anna Bingenheimer, geb. Bingenheimer.
„Wertschese“ dagegen war – anders als zumeist vermutet - keine mundartliche Abwandlung von Gastwirtschaft („Wertschaft“), sondern ein Spottnamen, den sie vom Opa ihres Mannes „geerbt“ hatte. Dieser war ein sehr kleiner Mann und so sprach sich rum:
„Des ist koon Wert, des is a Wertsche“ (Das ist kein Wirt, das ist ein Wirtchen). ⁴
Aber wer Tante Anna mit der drohend erhobenen „Berschd“ (ja, es war die Spülbürste,
wobei diese der Überlieferung nach, eine umfunktionierte Klobürste gewesen sein soll!) vor sich sah oder in Aktion erlebte, der wusste, dass kein Scherzname je unpassender war.
Und so wurde gegen Ende hin die kleinen Kneipe in der Domhof-Straße nur noch eher selten „Zum Schützenhof“ genannt.
Von Bläser über Binzel zu Bingenheimer
Bei ehemalige Gaststätten, in denen sich einst die Bürger nach einem harten Arbeitstag trafen und die zu "Vereinsheimen" gemacht wurden, gibt es meist einen reichen Schatz an erinnerungswürdige Anekdoten und Geschichten. Der Selzer "Schützenhof" konnte zudem auf eine besonders lange und bewegte Vergangenheit zurückblicken. ³
Die Gastwirtschaft gab es bereits seit etwa 1835 und sie war bis zur ihrem Ende, etwa 150 Jahre später, immer in Familienbesitz, auch wenn sich der Nachname der Eigentümer von Bläser über Binzel zu Bingenheimer änderte. ⁴
Das Haus dürfte mit seinem Fachwerk eines der älteren Häuser in Selzen sein. Im Zusammenhang mit der langen Tradition der Jagd in Selzen wird die Entstehung des Namens "Zum Schützenhof" vermutet. Die Jäger dürften dort eingekehrt sein und auf ihr Jagdglück angestoßen haben.
Alles kommt auf den Tisch
In der Gaststätte pulsierte lange Zeit das dörfliche Leben. Das Lokal in der Domhofstraße war eine Stätte des Austauschs, und das nicht nur für die heimischen Bürger. Gäste, Landwirte, Feldarbeiter, Handwerker, Polizeidiener, Briefträger und Beamte brachten Neuigkeiten in den "Schützenhof" und verließen das Lokal wieder mit neuen Informationen. Am Stammtisch wurde auch mal kräftig übertrieben, um Gerüchte ins Dorf zu tragen. Wirte waren damals definitiv die bestinformiertesten Einwohner eines Dorfes. ³
Im Epizentrum der Selzer Geselligkeit gelegen, befand sich das Lokal in unmittelbarer Nachbarschaft zu den Wirtschaften "Zum Pfälzer Hof" und "Zur Krone", beide in der Gaustraße.
Allerdings hatte der "Schützenhof" den anderen Gaststätten etwas voraus: Die Öffnungszeiten. Geöffnet wurde bereits morgens um 8 Uhr und erst nach Mitternacht verließen die Spätheimkehrer die Kneipe.
Sonntags wurde an mehreren Tischen Herz- und Kreuzskat, später auch mit den französischen Blättern Skat gespielt. Zu allen Zeiten blieben die Preise niedrig. Das Bier lief vom Fass und der „Halwe“ und „Schoppe“ kam von den Erzeugnissen aus eigenem Wingert.
Speisen gab es nur zur Kerb und an Selzer Festtagen. Dann stand aus der Hausschlachtung das Kotelett, das Schnitzel und die Bratwurst, jeweils mit Kartoffeln und Salat, auf der übersichtlichen Speisekarte. ³ Ansonsten gab es für den kleinen Hunger immer belegte Brötchen, harte Brezeln aus dem Eimer oder Ültje-Erdnüsse.
Bodenständigkeit auch beim Bier: Spätesten seit 1886 lieferte die Wormser „Werger-Brauerei AG“ das Bier „Apostel Bräu“.
1929 fusionieren die beiden erfolgreichen Brauereien „Werger“ aus Worms und „Eichbaum“ aus Mannheim. Und so floss im Schützenhof nach Schließung der Werke in Worms (1978) Eichbaums „Ureich Pils“ in die leeren Gläser und sich füllenden Mägen.
Wirtin aus Leidenschaft
Zu diesem Zeitpunkt hatte die am 24. Mai 1905 geborene und 1928 in die Familie eingeheiratete Anna Bingenheimer längst den Zapfhahn übernommen. Immer schon die gute Seele des Schützenhofs hatte sie während des Krieges und nach dem Tod ihres Mannes 1960 die Kneipe alleine geführt, zuletzt unterstützt von ihrem Sohn Richard.
Durch die legendären Wirtin, die bis kurz vor ihrem Tod 1987 das Lokal führte, erlangte der "Schützenhof" über die Dorfgrenzen hinaus einen hohen Bekanntheitsgrad.
Da gab es Etwas zwischen die Ohren
Allerlei Anekdoten und Geschichten ranken sich um die Gaststätte. So erzählte man sich, dass ein Angeber nach Einführung des 1000-Mark-Scheins („Brauner Riese“) 1964 damit seine drei Bier bezahlen wollte. "Tante Anna" kassierte und hielt die wertvolle Banknote so lange in Geiselhaft, bis das Geld abgezählt auf die Theke kam.
Gutgläubigen Trinkbrüdern wurde - als sich eines Tages die Kirchenuhr nicht mehr drehte - glaubhaft versichert, dass sich neuerdings das Ziffernblatt bewegen würde.
Abenteuerlich auch jene Szene aus den 30er Jahren: Im Lokal prahlte ein Selzer, dass er dem Dorf zum Wohlstand verhelfen wolle. In Brasilien wollte er Urwald roden, um eine Zuckerrohrplantage anzubauen. Die Äxte hatte er sich extra hierfür in der Schmiede Jung schleifen lassen und feierte nun quasi seinen vorschnellen Ausstand. ³
Im Gastraum befand sich hinten rechts ein alter Fernseher. Zwischen den ankommenden und gehenden Gästen schaute Tanta Anna dort ihre Sendungen. Ein Kanalwechsel (zur Sportschau) durch einen Gast war ein waghalsiges und unberechenbares Unterfangen. Denn oft, aber eben nicht immer, gab es dafür mit der flachen Hand oder der Spülbürste einen „gutgemeinten“ – mitunter auch manchmal etwas zu kräftig dosierten - Schlag auf den Hinterkopf. Oder wie sie sagte ... "jetzt gibt's was zwischen die Ohren".
Etwas für die ganz Mutigen war sicherlich auch die Eisbestellung. War das Eis fertig und die Kugeln im Becher, wurde der Portionierer von der Chefin persönlich sauber geleckt und in ein Wasserglas mit „Spüli“ gestellt.
Es passierte durchaus nicht selten, dass bei Mehrfachbestellungen oder Wechsel der Eissorte der Löffel zwar den Weg in den Mund fand, nicht aber in das Spülmittel.
Und das sonntägliche Eis gab es auch in einer Muschelwaffel. Was über dem Rand hing wurde - wenn es abzustürzen drohte - schnell von "de Wertschesen" abgeleckt. Dann bekam man es ausgehändigt.
Aber ... das Risiko war bekannt und außerdem ... es war ja die „Modder“ und damit blieb alles in der Familie.
Worauf Anna Bingenheimer immer besonders stolz war: In ihrer „Regentschaft“ hat es keine Schlägerei gegeben. Resolut schwang sie ihre „Berschd“ und griff rechtzeitig ein. Wenn einer gar nicht spurte, wurde er von ihr auch schon mal rausgeschmissen.
Sicherlich kann jeder, der dort einkehren durfte, seine eigenen persönlichen Geschichten erzählen.
Vereinsheim für alle
Zu dem Gasthaus gehörte auch das 1914 erbaute sogenannte „Sälchen“ gegenüber. Sozusagen die Frühform eines wirklich multifunktionale Gebäudes. Mehr zum Sälchen bald im zweiten Teil „King Kong bei Tante Anna“.
Florierende Umsätze brachten die Sänger vom Männergesangverein "Frohsinn 1861/81. Der Gesangverein war 1910, nach dem Ende des „Pfälzer Hofs“ in den Schützenhof gewechselt und singt noch heute im mittlerweile gekauften „Sälchen“. Der Ablauf einer Singstunde folgte einem festen Ritual. Zuerst Stimmbänder ölen im Schützenhof, dann über den Hof ins Sälchen zum Üben. Zur Pause und zum beruhigen der Gesangsorgane rüber ins Lokal. Voll gestärkt und zum Schlussakkord bereit, zurück ins Sälchen. Nach dem letzten Lied wieder rüber in das "Wohnzimmer" zwecks feucht fröhlichem Aus"klang" des Tages.
1925 gründeten 26 Gleichgesinnte im "Schützenhof" den Radsportverein und machten die Gaststätte zum Vereinslokal. Unter den Gründern waren auch Vater und Sohn Heinrich und Richard Bingenheimer, damals und später die Inhaber vom Schützenhof.
Auch der Würfelclub „Die 12 Gemüdlichen“ hatten dort seinen Stammtisch. Weitere Vereine trafen sich bei Tante Anna oder ließen dort ihre Zusammenkünfte und Trainingseinheiten feucht fröhlich ausklingen, zum Beispiel der SPD Ortsverein Selzen, die Landjugendgruppe "Nazariberg“ oder die Tischtennisabteilung des TV 03.
Das letzte Bier
Nach dem Verlust unserer geliebten Tante Anna 1987 übernahm ihr Sohn Richard Bingenheimer die Gastwirtschaft. ¹
Natürlich konnte er die "Modder" nicht wirklich ersetzen und so begann das schleichende Ende des legendären Schützenhofs.
Ohne einen Erben und Nachfolger schloss sich 2001 mit dem Tod von Richard Bingenheimer die Wirtschaftstür für immer.
Heute ist das Anwesen geteilt. Das einstige Wohnhaus mit der Gaststätte im Erdgeschoß wird seit dem Verkauf und zwischenzeitlicher Vermietung nur noch als privater Lagerraum genutzt, während der Saal vom Gesangsverein erworben wurde, um dort auch heute noch seine Übungsstunden abzuhalten.
Zurück im Haus blieben Räume, Gegenstände, Erinnerungen und Bilder eines bewegten Lebens an einem für Selzen so geschichtsträchtigen Ort.
Der Schützenhof (Teil 2) - "King Kong bei Tante Anna" - folgt in Kürze.
Bildquellen:
¹ Aus der im Haus zurückgebliebenen Foto-Sammlung von Anna und Richard Bingenheimer
² Internetfund. Quelle Stadtarchiv Worms
Alle anderen Bilder und Postkartenreproduktionen von Stefan Bremler
Textquellen:
³ Vgl. "Zur "Tante Anna" kamen sie alle" in: Allgemeine Zeitung (Mainz) / Landskrone. - 153 (2003), 21 vom 25.12003, Seite 14
⁴ Vgl. "Wir gratulieren Frau Anna Bingenheimer zum 80. Geburtstag", Selzer Ortsschell Nr. 21, Juli 1985, Seite 1-2
Und ... viele eigene Erfahrungen und Erlebtes, inklusive Berschd und Eis.
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