Die 2.000 nationalsozialistischen Weisungen an die Volksschule Selzen.
Ein Überbleibsel zeigt die Mobilmachung der Kleinsten im Dritten Reich
Vor einigen Jahren erfuhr ich, dass im Keller der alten Schule in der Kaiserstraße 17 noch einige alte Akten, Papiere und Bücher in einem Schrank lagern. Und dies mehr schlecht als recht, denn der Keller ist feucht und die Dokumente sind regelrecht in den Schrank gequetscht.
Vor zwei Jahren war ich dann mit Erlaubnis der Gemeindeverwaltung dort und habe mir einen ersten Eindruck über den Bestand gemacht.
2000 Verfügungen aus dem 1000-jährigen Reich
Der interessanteste Fund war auf den ersten Blick eine etwa 2000 Seiten umfassende "Loseblattsammlung" von Verfügungen und Weisungen, die in der Zeit des Nationalsozialismus auch an die Volksschule Selzen adressiert waren.
Diese waren unbedingt erhaltenswert und die Zeit drängte. Denn die Unterlagen geben eine Ahnung davon, was Hitler meinte, als er 1938 in einer Rede unumwunden formulierte: "
... und sie (die Knaben und Mädchen) werden nicht mehr frei ihr ganzes Leben".
Für die Knaben sah das so aus: Vom Jungvolk in die Hitlerjugend, danach in die Partei, in die SA oder SS, weiter zur Arbeitsfront und in die Wehrmacht. Die Schule war die Vorstufe dazu - die Mobilmachung der Gesellschaft, angefangen mit den Kleinsten.
Zwar kommen die Blätter einzeln nicht so monströs daher, wie man glauben könnte. Aber unter dem Gesichtspunkt, dass auch abenteuerliche und gemeinschaftliche Aktionen stets der Gleichschaltung, der Rassenideologie, sowie der Kriegsvorbereitung und -durchführung dienten, zeigen sie doch die perfiden Methoden der NS-Organisationen und Schulbehörden.
Auszüge aus den Weisungen mit besonders entlarvenden Formulierungen sind in den Beiträgen "Notizen aus dunkler Zeit - Selzen von 1933 bis 1938" und "Chronik des Untergangs - Selzen von 1939 bis 1945" nachzulesen.
Sehr interessant ist auch der Zeitpunkt des Sammlungsbeginns. Die erste überlieferte Weisung trägt das Datum 06. März 1933. Also nur wenige Tage nach der "Reichstagsbrandverordnung" am 28. Februar 1933, dem ersten entscheidenden Schritt in die NS-Diktatur. Die vermutlich vollständige Archivierung der Verfügungen wird dann über 9 Jahre aufrecht erhalten. Hat ein Lehrer der Schule so früh kommen sehen, was noch folgen sollte und sich damit abgesichert? Die Frage werden wir wohl nicht beantworten können.
Die Sammlung endet mit dem Schreiben vom 29. Dezember des Kriegsjahres 1942 (sofern im Keller keine weiteren Akten auftauchen). Das Papier war knapp geworden und der Schulbetrieb fast nur noch auf Aktionen zur Beschaffung von Rohstoffen für die Kriegswirtschaft reduziert. Aber vielleicht war auch der Lehrermangel schuld. Denn die letzte Verfügung lautet:
"Sämtliche Schulleiter melden mir bis zum 05. Januar 1943 ... alle Lehrkräfte die zur Wehrmacht eingezogen sind. Der Termin ist unbedingt einzuhalten. Nichtbeachtung des Termins zieht Unannehmlichkeiten nach sich."
Alle Blätter wurden von mir in den letzten zwei Jahren vorsichtig getrocknet, sortiert, gesichtet und sorgfältig archiviert.
Die Blätter warten jetzt auf eine systematische Veröffentlichung. Ein erster Versuch ist allerdings gescheitert. Geprüft wird jetzt eine tagesgleiche Internet-Veröffentlichung der Schreiben inklusive Kommentaren über den Zeitraum von 9 Jahre.
Noch ein abschließender Hinweis:
Die Verfügungen gingen an alle Volksschulen im Kreis (Oppenheim). Sie enthalten keine Namen von Personen aus Selzen und keine datenschutzwürdige Informationen. Ggf. verfasste Antwortschreiben auf die Anordnungen der NS-Organisationen und Schulbehörden sind nicht überliefert.
Das Überbleibsel: Nationalsozialistische Schul-Weisungen
Entstehungszeit: 1933 -1942
Eigentümer: Gemeinde Selzen
Besitzer: Stefan Bremler (derzeit)
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