Nach der Selzer Kerb ist vor der Selzer Kerb. Zur Einstimmung auf den nächsten Höhepunkt des Jahreskalenders einige historische Fakten, Begebenheiten und Anekdoten zur Selzer Kerb und zur Kirchweih im Allgemeinen.
Im Mittelalter:
DIE ERSTE KIRCHWEIH
Ähnlich wie bei Weihnachten, Ostern oder Pfingsten gerät auch bei der Kerb der religiöse Hintergrund und die ursprüngliche Bedeutung immer mehr in Vergessenheit. Als religiöse Feier anlässlich des Jahrestages der Weihe der örtlichen christlichen Kirche wird die Kirchweihe bereits seit dem frühen Mittelalter gefeiert. Also schon vor der Reformation, die im frühen 16. Jahrhundert die Spaltung der Kirche in eine katholische und eine evangelische Konfession herbeiführte.
Die Kirchenweihe des Vor-Vorgänger-baus der heutigen evangelischen Kirche ist wohl der Grund, warum wir unsere Kerb am zweiten Wochenende im September feiern. Die Kirche war dem „Geheimnis der Geburt Mariens“ geweiht und erinnert am 8. September eines jeden Kirchenjahres an die Geburt Marias, der Mutter Jesu Christi. ¹
Wenn dem so ist, dann ist unsere Kerb so alt wie unser erhaltener mittelalterlicher Kirchturm, errichtet um 1200.
Willkommen also, bei der über 800sten Ausgabe der Selzer Kerb.
Übrigens: In der evangelischen Kirche wird bei einem neuen Gotteshaus die Weihehandlung nicht vollzogen und durch eine Widmung ersetzt. Unsere heutige evangelische Kirche wurde am 18. Februar 1748 feierlich ihrer Bestimmung übergeben. Die katholische Kirche jedoch führt den Ritus fort und hatte am 11. September 1876 ihre in der Friedhofstraße neu errichtete Kapelle wiederum der Jungfrau Maria geweiht.
Also kann durchaus gesagt werden, dass wir an Kerb die Kirchweih der katholischen Kapelle in der Friedhofstraße feiern.
Im Laufe der Zeit: KERB UND KIRMES
Zum Jahrestag der Kirchweihe strömten im Mittelalter viele Menschen zum Gotteshaus. Schnell waren die örtlichen Kirchenweihen nicht nur ein religiöses und gesellschaftliches, sondern auch ein wirtschaftliches Ereignis. Einheimische boten auf dem anschließenden Markt ihre Waren an und fahrende Händler machten für mehrere Tage halt. Schon bei der Festlegung der Kirchweih-Termine wurde sorgsam darauf geachtet, dass sich die benachbarten Dörfer keine Konkurrenz machten und die Händler sich nicht entscheiden mussten.
Aus den religiösen Zusammenkünften entstanden nach und nach weltliche Veranstaltungen und Volksfeste mit ihren Brauchtum, wie geschmückte Bäume, Umzüge, Tanzveranstaltungen und so weiter.
Dieser Entwicklung wird deutlich in den Begriffen Kerwe oder Kerb, Kirmes und Jahrmarkt.
Sprachgeschichtlich entwickelte sich in Verbindung mit den Dialekten aus dem Wort Kirchweih der Begriff Kerwe bzw. Kerb. Der Ausdruck Kirmes geht zurück auf Kirchmesse, ggf. sogar sehr verkürzend auf Kirchweihmesse. Und der Jahrestag der Kirchweihe mit seinem Markt bildet den Ursprung für das Wort Jahrmarkt. ²
Im 18. Jahrhundert: FRIEDE SEI MIT DIR, SONST ...
Das Kirchweih-Fest war für die Kirche ein Hochfest, ein Festtag im Kirchenjahr mit höchstem Rang. Hochfeste rücken besondere Glaubensinhalte oder – wie bei der Kirchweih – bedeutende Heilige in den Mittelpunkt und haben Vorrang vor allen anderen kirchlichen Festen oder Gedenktagen.
Daher wurde zu diesem wichtigen Feiertag der "Kirchweihfriede" ausgerufen. Die Bürgerinnen und Bürger wurden zu Frieden und Einigkeit verpflichtet – unter Androhung schärfster Strafen bei Missachtung. Kommt einem bekannt vor? Stimmt, diese Verordnungen sind der geschichtliche Hintergrund unserer heutigen Kerbe-Gebote.
Verstöße gegen dieses Friedensgebot waren damals für die Pfarrer besonders schändlich und strafens- wie verdammenswert, wie zwei Einträge in das Kirchenbuch beispielhaft bezeugen.
Selzen, 1721: Immer wieder waren „Streithändel und die Unordnung in den Wirtshäusern“ Thema in den Kirchenvorstandssitzungen. Vielleicht in diesem Zusammenhang musste 1721 ein Selzer Wirt dem Pfarrer Johann Georg Coester beim heiligen Abendmahl schwören, auf der Kerb keine Spielleute (Musikanten) in seinem Lokal zu beschäftigen. Tat er dann aber doch. Der Bruch dieses Gelübdes kostete ihn einen Gulden, der für die Orgel verwendet wurde. ³
Selzen, 1740: Auf der "Selzer Kürbe" wurde am 8. September 1740 Johannes Hehn – "nachdem die Leuthe außem Hauße gegangen" – bestohlen. Der Bösewicht ist "mit den gestohlenen Kleidern auf Mainz gewandert. Am selbigen Abend kam der Ambt Knecht von Alzey allhier an mit der Order um ihn gefanglich nacher Alzey zu führen, aber er ward gewarnet von seinem Mitgesellen, mithin macht er sich aus dem Staub ...". ³
Entrüstet ob des Verstoßes gegen den Kirchweihfriede schrieb Pfarrer Johann Paul Dilg:
"... mithin wird er als ein Cains-Kind in der Welt unsteht und flüchtig seyn, bis er seinen verdienten Lohn empfangen wird."
Der Vergleich mit Kain – der seinen Bruder Abel erschlug – zeigt, wie Pfarrer Dilg bezüglich der Schwere der Tat dachte.
Im Jahr 1789: DIE ENTEHRTE KERBEMUTTER
Die Selzer Kerb ist auch in historischen Gerichtsakten von Dexheim Thema.
Im Jahr 1789 erschien vor dem Dorfgericht in Dexheim die zugezogene Dienstmagd Anna Catharina Göthin (Götter). Untersucht wurde ihr unehelicher Geschlechtsverkehr, deren Beweis durch ihre Schwangerschaft offensichtlich vorlag. Für die Dorfgemeinschaft in Dexheim war diese Situation unhaltbar und zu klären. Anna Catharina Göthin gab vor Gericht als Schwängerer und Kindsvater Johann Wilhelm Neumer, den Sohn des Dexheimer Schultheißen (Bürgermeister), an. ⁴
Ein Paukenschlag, zugegeben ... aber was hat das mit der Selzer Kerb zu tun? Nun, sie sagte weiterhin aus, es sei der "Beyschlaf uf die Selzer Kirchweih" geschehen. Und das Wilhelm Neumer "Bey dieser tatsache das sacktuch auf den boden gelegt habe, damit er seine Hoßen nicht mit dreck besudelt hätte". ⁴
Dieser sagte aus, "Dass er nicht das geringste mit der geschwächten zu selzen verrichtet habe". Diese sei eine "rechte Hur" und "Weibsbild". Der Ausgangs des Verfahrens ist nicht bekannt, es ist aber nicht davon auszugehen, dass der Sohn des Schultheiß die Magd ehelichte und ihre Ehre wiederherstellte. Diesbezüglich gab er zu Protokoll:
„Da wolle er lieber, dass ihn die Vögel in der Luft verzehrten.“ ⁴
Womit wir wieder – diese Steilvorlage mußte ich einfach nutzen – beim vögeln wären.
Übrigens: Vögeln ist ein sehr altes Wort aus dem 15. Jahrhundert und selbst Johann Wolfgang von Goethe benutze den Begriff – ebenfalls in diesem Zusammenhang – in seinen Werken vielfach.
Bis 1939:
ZWISCHEN DEN TRÄNKEN
In Selzen dürfte sich der Ort des Marktes bzw. Rummels (rummeln = lärmen, toben) über die Jahrhunderte immer wieder geändert haben. Ja, ich selbst kenne schon vier (!) verschiedene Kerbeplätze – Freier Platz, Alter Sportplatz, Ecke Kaiserstraße/Oppenheimer Straße und Ecke Oppenheimer Straße/Kirchstraße.
Wohl eine lange Zeit – bis vor Kriegsbeginn 1939 – befand sich der Festplatz an der Gussebumb (Gaustraße, Einmündung Tränkgasse und Domhofstraße).
Der Platz war gut gewählt, lag er doch zeitweise mit gleich drei Wirtschaften sozusagen im Epizentrum der Selzer Geselligkeit. Sowohl „Pfälzer Hof“ und „Zur Krone“ sowie auch später die Gastwirtschaft "Zum Schützenhof" hatten für das feiernde Volk einen Tanzsaal zu bieten.
Auf dem Rummelplatz stand ein von Pferden gezogenes Karussell und zwei „Zuckerstände“. Eines davon in Besitz eines Selzers, der lange Jahre große und kleine Zuckerstangen verkaufte. ⁵
Freunde und Bekannte kamen zu Fuß, mit Gespann und ab 1896 mit der neuen Eisenbahn nach Selzen zur Kirchweih. Diese begann nicht schon am Freitag oder Samstag, sondern erst am Sonntag. Bis Dienstagabend wurden die Gäste mit dem Besten, was Küche und Keller boten bewirtet. In den Kellern waren zu diesem Anlass besonders feine Tropfen als Kerbeweine zurückgelegt worden. Die Frauen hatten am Samstag schon den Kerbekuchen vorbereitet. Der „Selzer Bund“ wurde am Sonntag morgen zum Bäcker gebracht und zwei Stunden später duftend und fertig gebacken wieder abgeholt. ⁵
"Der Sonnabend war Backtag dazumal, beim Bäcker im Dorf - 's war'n zwei an der Zahl. 'S gab Hefekuchen, von Muttern gemacht, von uns Kindern gerne dorthin gebracht. Mit Zeichen versehen, so war garantiert, daß eine Verwechselung niemals passiert." ¹⁸
Im Jahr 1957:
TANZBÄNDCHEN UND METTBRÖTCHEN
Dem besonderen Anlass entsprechend, galt es sich zu kleiden. Mädchen und Frauen bekamen ein neues Kerbekleid.
"Zur Kerb war es Sitte so allgemein, ein neues Kleid für die Damen musst' sein. Damals gab es nicht viel von der Stange, das Kopfzerbrechen begann schon lange vor dem Fest, die "Nädern" wurde bestürmt, Stoffe gekauft und vor ihr aufgetürmt." ¹⁸
Die Buben und Männer holten ihren Anzug aus den Schränken. Schließlich war die Kerb der Höhepunkt des Jahres. ⁶ Zusammen wurde gegessen, getrunken, gefeiert, gelacht und vor allem ... drei Tage durchgetanzt.
"Wir Frösch' lernte jetzt danze, zu unserem Plaisier - Und ertönt in de Turnhall' Musik, dann hupsten wir. Ob Tangorythmus, Walzerschwung und Sambaschritt, Wir drehtren fast jedes Dänzje mit. Auf Maske'bäll, Bremsermusik und Kerbedänz', Wurden wir Bube zu richtige Stenz', Denn die weibliche Frösch' - wie's im Lebe' so geht - Hatte uns Mannswelt die Köpp verdreht!" ¹⁷
Die Turnhalle wurde geschmückt und in ein Tanzlokal verwandelt. Mittlerweile begann die Kerb am Samstagnachmittag und die Musikkapelle „Fidelios“ spielte für die Jugend auf. Gegen Abend ging es nach Hause für notwendige Arbeiten, Stärkung und für die Vorbereitung auf den Abend. ⁶
Da die Tanzfläche am Abend nicht groß genug für alle Tanzwütigen war, ließen Helfer immer nur eine bestimmte Anzahl Tanzpaare zu. Kontrolliert wurde auch, ob der Herr ein „Tanzbändchen“ am Revers trug. Damit konnte er den ganzen Abend tanzen, während Solotänzer beim Abarbeiten Ihrer Tanzpartnerliste für jeden einzelnen Tanz zahlten.
"An Kerb und den Feiertagen im Jahr ein zünftiges Tanzvergnügen dann war. Bei den Bällen mussten wir stehen an drei Solo, um einmal zu tanzen dann. Herr Reichert, in Hochform, gab dabei acht, daß keiner von uns 'nen Extratanz macht." ¹⁸
Mit den Einnahmen wurde die Musikgruppe bezahlt. Zwischendurch gab es Cola- und Blunaschoppen und Mettbrötchen. Gefeiert und getanzt wurde bis in die frühen Morgenstunden. Dann packte die Kapelle ihre Instrumente zusammen und die Selzer gingen nach Hause um sich vor dem nächsten Tag noch etwas zu erholen. ⁶
Auch 1957:
AUS DEM ANZUG ZUM UMZUG
Auch der sich am Abend spontan organisierte „Kerbejahrgang 1957“ – einige junge Männer im Altern von 16 bis 22 Jahren – ging nach Hause. Aber nur um sich schon bald nach erledigter Arbeit und frisch gemacht wieder zu treffen. Bei Werner Andreas an der Wein- und Bierwirtschaft Andreas kam die bunte Truppe zusammen. ⁶
Sie spannten den Ochsen vor den Leiterwagen und zogen singend zum möglicherweise allerersten Kerbeumzug los.
Unterwegs wurde der Bürgermeister Christian Siegel eingesammelt und bei der Metzgerei Rudolf Kissinger Fleischwurst geladen. Laut und lustig ging die Ochsenkarrenfleischwurstfahrt quer durch den Ort. ⁶
Wenn man die Fotografien ¹³ sieht ... wäre man gerne dabei gewesen.
Im Jahr 1990:
VIEL NEUES UM DEN KERBEPLATZ
1982 beschloss der Gemeinderat Selzen, die Kerb wieder etwas zu beleben. Und so ging 1983 mit dem Geburtsjahrgang 1962/1963 die allererste offizielle Kerbejugend an den Start. Vier Jahre später erschien dann die erste Kerbezeitung. 1987 konnte im Sitzungssaal der Gemeinde die erste Kerbe-Ausstellung besucht werden. Und der Bauern- und Winzerverein veranstaltete 1988 das – inzwischen zur Tradition gewordene – Weinfestival (heute Kerbeweinprobe).
Die Allgemeine Zeitung berichtete 1990 zweiseitig über die in Rheinhessen mittlerweile außergewöhnliche und vorbildliche Veranstaltung. Wir schauen zurück und erinnern uns wehmütig an die vielen Winzer und Gaststätten.
Im Jahr 2013:
DIE KERBERETTER
Am 09.09.2011, nach der Kerbeweinprobe im Selzer Gottesgarten, beschlossen einige ehemalige Kerbejahrgangsmitglieder, ab 2012 als Kerbe Allstars den Kerbumzug tatkräftig zu unterstützen und zu begleiten. Es war keine Schnapsidee. 2013 fand sich dann kein Kerbejahrgang und die Kerbe Allstars übernahmen nun auch die Planung und Umsetzung der Selzer Kerb.⁷
Seit dieser Zeit sind die Kerbe Allstars – unterstützt durch den jeweiligen Kerbejahrgang – federführend für die Durchführung und das Gelingen der Selzer Kerb verantwortlich.
Und das machen sie richtig gut. Vielen Dank liebe Kerbe Allstars, dass ihr die – wie hier zu lesen war – lange Tradition der Selzer Kerb aufrecht erhaltet und weiterführt.
Wem gehört die Kerb? Unser!
Quellen:
¹ Otto Böcher: Selzen. Ein geschichtlicher Überblick. In: Jubiläumsbuch zur 1200-Jahrfeier der Weinbaugemeinde Selzen, Selzen 1982, Seite 24.
² Georg Drenda: Kleiner linksrheinischer Dialektsatlas. Sprache in Rheinland-Pfalz und im Saarland, Stuttgart 208, Seite 182.
³ Walter Schwamb: Was alles in Protokollbüchern versteckt ist. In: Festschrift 250 Jahre Evangelische Kirche Selzen, Selzen 1991, Seite 39-40.
⁴ Jessica Boller: daß er von einem vertrauten Umgang gar nichts sagen könne. Sexuelle Devianz, kommunikative Strategien vor Gericht und Gerede im Dorf im 18, Jahrhundert. In: Zeitschrift für die Geschichte Rheinhessens, Worms 2023, Seite 61-85.
⁵ k: Bund-Kuchen und Kerwe-Wein. Aus: Allgemeine Zeitung, Landskrone, Datum ?.
⁶ Kerbezeitung 1997: Zurück in die Vergangenheit, Seite 13-14.
⁷ Kerbezeitung 2013: Grußwort, Seite 2.
¹⁷ Klaus Keller: Selzer Gottesgarten, Sylvaner Auslese - Jahrgang 1934 (Auszug). Mainz, 1974.
¹⁸ Toni Dawczynski-Binzel, Jubiläumsbuch zur 1200-Jahrfeier der Weinbaugemeinde Selzen, 1982.
Bilder und Fotografien:
⁸ Fotoarchiv Stefan Bremler
⁹ Das Pfarrhaus in Selzen. Ölgemälde,1855, von August Lucas (1803 - 1063), deutscher Grafiker und Landschaftsmaler der Romantik aus Darmstadt. Original in Besitz der Familie Wernher, Nierstein. Repro-Fotografie von Stefan Bremler.
¹⁰ Titelblatt der Kerbezeitung 1987. Repro-Fotografie von Stefan Bremler.
¹¹ Teildarstellung einer historischen Postkarte. Repro-Fotografie von Stefan Bremler
¹² Fotografie aus: Bilder aus vergangenen Tagen 1900-1945. Horb am Neckar, 1989, Seite 38. Repro-Fotografie von Stefan Bremler.
¹³ Fotografien von Werner Andreas und Lothar Hauenstein. Repro-Fotografien von Stefan Bremler.
¹⁴ Zeitungsseiten der Allgemeinen Zeitung, Landskrone, 7. September 1990. Repro-Fotografien von Stefan Bremler.
¹⁵ Fotografie von Jasmin Metten aus Kerbezeitung 2013. Repro-Fotografie von Stefan Bremler.
¹⁶ Fotografie Kerbe Allstars. Repro-Fotografie von Stefan Bremler.
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