Ein Special zur Bundestagswahl 2021:
Kurioses, Erinnerungswürdiges und Monströses aus dem Selzer "Wahllokal" vergangener Zeiten.
Kleine Anekdoten von Glückslos und Niete, von lustigen und bedrohlichen Wahlbesuchen, von einem gottlosen Oberhaupt und einer Familien-Dynastie.
Glücksspiel im Sitzungssaal ¹
Kommunalwahl 1979
Die Demokratie steckte 1979 noch in den Kinderschuhen. Das Wahlsystem irgendwie auch. So sah das Wahlrecht vor, dass der neu zusammengesetzte Gemeinderat per Abstimmung ein Mitglied zum Ortsbürgermeister wählte. Sollte dabei ein Gleichstand nach zwei Abstimmungen nicht aufgelöst sein, gab es einen Losentscheid. Die Wahl des Bürgermeisters durch den Rat ... das war in Selzen in der Nachkriegszeit bis 1979 ohne nennenswerte Vorkommnisse geblieben.
Die Sitzverteilung in Selzen nach der Kommunalwahl 1979: Freie Wählergemeinschaft (FWG) 7 Sitze, Sozialdemokraten (SPD) und Wählergemeinschaft Heimlich (WG) jeweils 4 Sitze.
Sah gar nicht so besonders kompliziert aus ... wurde es dann aber. Erst im zweiten Wahldurchgang gab es eine Entscheidung zwischen den Vier-Stimmen-Kandidaten Adolf Heimlich (WG) und Klaus Penzer (SPD). Der Sozialdemokrat erhielt durch einen völlig überraschenden Lagerwechsel nur drei Stimmen und schied vor einer möglichen Losentscheidung aus. Bei dem Duell zwischen Amtsinhaber Hubert Geil (FWG) und Herausforderer Heimlich (WG) stand es bei zwei weiteren Wahlgängen, bei einer Enthaltung, ausgeglichen 7 : 7.
Jetzt musste das Los entscheiden, wer Ortsbürgermeister von Selzen wird.
Der Name Hubert Geil wurde aus dem Hut gezogen und somit war der alte Bürgermeister auch der Neue.
Ene mene muh, und raus bist du ²
Kommunalwahl 1984
Fünf Jahre später wurde es fast noch kurioser. Wieder musste gelost werden.
Diesmal entschied das Los aber nicht, wer Ortsbürgermeister wurde, sondern wer es nicht werden konnte.
Wie war die Ausgangslage? Nach wie vor bestimmte der neu gewählte Gemeinderat aus seinen eigenen Reihen einen Bürgermeister. Bei der Wahl zum Gemeinderat Selzen am 17. Juni 1984 erhielt die Wählergemeinschaft Heimlich (WG) 275 Stimmen, die Sozialdemokraten (SPD) 269 Stimmen und die Freie Wählergemeinschaft (FWG) 259 Stimmen. Knapper geht's fast nicht.
Umgerechnet in Sitzen bedeutete dies, - man kann es sich schon denken - dass jede der drei Fraktionen gleichviel Sitze erhielt, nämlich 5. Und da jede Partei einen eigenen Bürgermeisterkandidaten aufgestellt hatte, endete sowohl der 1. als auch der 2. Wahlgang mit einem gar nicht so überraschenden dreifachen Patt. Wahrscheinlich hätte man den ganzen Tag weitermachen können, das Ergebnis wäre immer gewesen: 5 Stimmen für Adolf Heimlich (WG), 5 für Klaus Penzer (SPD) und 5 für Hubert Geil (FWG).
Daher musste das Los dieses Mal entscheiden, welcher der Kandidaten aus dem Rennen um das Bürgermeisteramt ausschied. Das unglückliche Los fiel auf den bisherigen Bürgermeister Hubert Geil, den Gewinner des Losentscheids von 1979. Die Mitglieder des Gemeinderats konnten jetzt nur noch zwischen den beiden verbliebenen Kandidaten wählen. Bei zwei Enthaltungen wurden letztlich Klaus Penzer mit 7 Stimmen zum Ortsbürgermeister gewählt.
Erst mit der Kommunalwahl 1994 wurde die Ortsbürgermeisterin bzw. der -bürgermeister von den Bürgern direkt gewählt. Aber wer weiß ... vielleicht kommt der Tag, wo das Los entscheidet, wer den Job machen MUSS.
Verneigung nach Selzer Art ³
Reichtagswahl 1903 bis 1920 (?)
Irgendwann verschlug es Wilhelm Jacoby im Wahlkampf nach Selzen, vermutlich in den alten Schützenhof.
Wilhelm Jacoby (1855-1925) war Redaktionsleiter des Mainzer Tagblatts, Präsident des Mainzer Carneval-Vereins, Schriftsteller und Lustspielautor. Zusammen mit Carl Laufs verfasste er sein bekanntestes Stück, "Pension Schöller", das 1890 in Berlin uraufgeführt und mehrfach verfilmt wurde.
Es lässt sich leider nicht mehr genau sagen, wann er als Kandidat für den Berliner Reichstag antrat, aber in seinem Mundart-Gedichtband "Lass das Rullo geh'n" (1924)
fasste er rückblickend seinen Wahlkampf, unter anderem in Selzen, in lustige Verse.
"In Selze war's ...."
"In Selze war's, wo ich zum Volk gesproche
Als neugebad'ner ¹ Reichstags-Kandidat
Ich hab dabei mir fast die Zunge verbroche,
Doch sonst war's schön, wann's aach nit grad ein Staat."
"Die Stubb war voller Menschen bis ehinner,
Das hätt ähm sonst als Redner ja behagt,
doch hier der Tabaksqualm, ihr liebe Kinner,
Ich glaab, der Ofe selber hat geraacht!"
"Bei Redde musst ich als fort mich verneige;
Doch nit, weil so gefalle hätt mein Redd,
Nään, weil ich ohne das Verbeuge
Den Kopp mir an die Deck gestoßen hätt'."
"Doch trotzdem sag ich, Alles spitz die Ohre - Was fällt ähm bei 'rer Wahl nit Alles ein? Wär ich in Määnz, dem goldne, nit gebore, Möchte ich wahrhaftig nor von Selzen sein!"
"Hoch! Beifall! Dann noch Wein und Karmenade ²
Doch bin ich doch nit komme nach Berlin
Die Mehrheit hat mir ernstlich abgerate -
Und aach nach Selze ... bin ich nie mehr hin!"
¹ heute würden wir sagen "neugebackener"
² französischen Wort für Kotelett
Ein Kessel Buntes ⁴
Bürgermeister 1817 bis 1901
Im 1. Koalitionskrieg waren im Herbst 1794 die linksrheinischen Gebiete Deutschlands durch die Französischen Revolutionstruppen besetzt worden. Kaiser Franz II. erkannte 1797 den Rhein als Ostgrenze Frankreichs an. Selzen war französisch und gehörte zum Département du Mont-Tonnerre (Donnersberg) mit dem Regierungssitz in Mainz. Die "Franzosenzeit" führte mit der Übernahme der französischen Gesetze zum Verfall der Herrschaftssysteme, dessen Anfänge ins Mittelalter zurückreichten. Dies änderte sich auch nicht nach der Niederlage Napoleons.
Mmh ... was für eine Einleitung. Was ich eigentlich sagen wollte ... etwa ab 1797 wurde der Verwalter oder Bürgermeister von Selzen nicht mehr gänzlich von fremden Herren bestimmt. Balthasar Kissinger I. (Amtszeit von 1792-1817) dürfte der letzte Selzer Schultheis von Landesherrn Gnaden gewesen sein.
Aber noch längst nicht konnte jeder Bürger, frei nach der französischen Parole "Freiheit, Gleichheit, Bürgerlichkeit", Bürgermeister von Selzen werden. Wohlhabendes und einflussreiches Bürgertum füllte zunächst das Machtvakuum.
Und so lenkten die Mitglieder einer einzigen Selzer Familie über 80 Jahre lang erfolgreich die Selzer Geschicke.
Die Familie Kessel war eine alte, weitverbreitete rheinhessische Familie. 1798 kam Johann Adam Kessel aus Schwabsburg nach Selzen und heiratete Anna Maria Büttel vom Kapellenhof. Nach einer Quelle von 1817 war der "Ackersmann" Kessel mit 83 Morgen Acker, 5 Morgen Weinberg und einem Vermögen von 12.900 Gulden der mit Abstand reichste Einwohner in Selzen.
1817 wurde Johann Adam Kessel Bürgermeister und blieb bis 1849 im Amt.
Sein Nachfolger war sein Schwiegersohn Balthasar Binzel III, der die Tochter Anna Maria Kessel geehelicht hatte. Er war bis 1868 das Selzer Oberhaupt.
Abgelöst wurde er von Johann Georg Kessel II., einem Enkel des Johann Adam Kessel.
Nach 13 Jahren in der Verwaltung übernahm von 1881 bis 1901 mit Adam Kessel ein weiterer Enkel von Johann Adam Kessel die Geschäfte.
Damit hatte die Familie Kessel am Stück 84 Jahre lang das Bürgermeisteramt in Selzen inne. Viele geschichtliche bedeutsame Ereignisse und Entwicklungen fallen in diese Zeit des Selzer Aufbruchs.
Selzen sucht den Super-Schultheiß ⁵
Wahl des Selzer Oberhaupts 1738
Heute einen Bürgermeisterkandidaten zu finden ist nicht einfach. Anfang des 18. Jahrhunderts, also vor der erwähnten "Franzosenzeit", war es aber auch recht kompliziert.
1738 fälschte das Selzer Oberhaupt Wilhelm Glaser zusammen mit dem Gerichtsmann und Zöllner Wilhelm Dexheimer und dem Gemeinsmann Peter Zimmer Schuldscheine. Dazu hatte man sich in Mainz verbotener Weise ein neues Siegel anfertigen lassen.
Die Selzer Andereas Knippenberger und Nikolaus Sandmann deckten den Schwindel auf und zeigten Glaser und seine Helfer beim Oberamt in Alzey an. Am 20. April 1738 wurden sie verhaftet und nach Alzey gebracht.
Der reformierte Wilhelm Dexheimer wurde tags darauf den Schinder zum Auspeitschen übergeben. Die katholischen Wilhelm Glaser und Peter Zimmer wurden des Landes verwiesen. Hört sich auch drastisch an, aber in dieser Zeit hätte womöglich ein Umzug nach Hahnheim, Köngernheim oder Mommenheim tatsächlich schon dafür ausgereicht.
Nun hatte Selzen keinen Verwalter, keinen Schultheiß mehr. Der Landesherr Karl III. Philipp und das Oberamt Alzey mussten einen neuen bestimmen. Allerdings musste der Schultheis katholisch sein. Und das war ein Problem! Tatsächlich war in Selzen kein weiterer in Frage kommender Katholik vorhanden.
Wochenlang wurde nach einem geeigneten Kandidaten gesucht. Schließlich erklärte sich der reformierte Johannes Heller bereit, mit seiner Frau und seinen Kindern katholisch zu werden.
Aber Spaß hatte er nicht damit. Der Schultheiß hatte nach dem Übertritt einen schweren Stand in seiner Familie.
Seine Frau und die Kinder lehnten die "fremde" Religion ab und verweigerten den Kirchenbesuch. Auch weigerten sich die Kinder standhaft, die katholische Schule zu besuchen.
Johannes Heller starb 1757. Nachdem er Schultheiß wurde hatte er nie wieder eine Kirche besucht. Damit dürfte er der einzige "Bürgermeister" von Selzen sein, der in seiner Amtszeit nie eine Kirche von innen gesehen hat.
Dunkle Schatten ⁶
Reichtagswahl 1930:
Noch ein Redner in Selzen. Aber nicht mehr lustig.
Am 04.06.1930 hielt der Nationalsozialist Nikolaus (Claus) Selzner vor 90 Zuhörer eine Wahlkampfrede in Selzen mit dem Thema „Die Idee des Nationalsozialismus“.
Selzner war 1927 zum Bezirksleiter der NSDAP für den Kreis Worms ernannt worden. Seine vorrangige Aufgabe war der Aufbau von Ortsgruppen im ländlichen südlichen Rheinhessen. Als NSDAP-Redner nahm Selzner in den Jahren 1929 und 1930 an insgesamt 38 NSDAP-Versammlungen teil.
Bei der Reichstagswahl am 14.09.1930, drei Monate nach der Rede, erhielt die NSDAP in Selzen 20% mehr Stimmen.
Wenn man nur ein wenig in die Zukunft des leidenschaftlichen Redner hätte schauen können. Dann wäre klar gewesen, wohin die "Idee des Nationalsozialismus" führte.
Am 1. September 1941 wurde Claus Selzner zum Generalkommissar von Dnjepropetrowsk ernannt. In dieser Funktion war er Ende 1941 für die Ermordung von 17.000 Juden in der Nähe des jüdischen Friedhofs in Dnjepropetrowsk verantwortlich.
Quellen:
¹ Augenzeugenberichte
² Vgl. Selzer Ortsschell Nr. 18, SPD Ortsverein Selzen, August 1984
³ Vgl. Wilhelm Jacoby "Lass das Rollo geh'n!", 1924 - Vielen Dank an Klaus Penzer für den Hinweis zu diesem Buch und dem Selzer Gedicht
⁴ Vgl. Rüdiger Hoffmann, Lutz-Peter Löbe und Wieland Pfeiffer "Ich holte meine Prager Schriften" - Leben und Werk des Otologen Johannes Kessel, 2015
Vielen Dank an Wilfried Maier der durch Recherchen in den Standesamtsunterlagen in der Gemeinde Selzen und auf dem alten Friedhof (Lebensdaten auf den Grabstätten) die korrekten Lebens- und Amtszeiten der Bürgermeister im 19. Jahrhundert ermittelt hat. In den Jubiläumsbüchern von 1984 und 2007 waren diese falsch wiedergegeben.
⁵ Walter Schwamb "Das Alte Rathaus von Selzen", 2010
⁶ Vgl. Hessisches Landesarchiv, Onlinerecherche in Arcinsys, Bestandsübersicht nach Suche "Selzen 1932 bis 1946" und
Vgl. Seite „Claus Selzner“. In: Wikipedia – Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 5. Oktober 2020, 13:16 UTC. URL: https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Claus_Selzner&oldid=204283267
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