Domhofstraße 6: Der Schützenhof (Teil 2) - Ganz großes Kino in der Kathedrale des kleinen Mannes in Selzen.
Ein Beitrag von Stefan Bremler im Rahmen der Aktion „Selzer Häuser erzählen“.
Kein Platz für die Feierwütigen
Um 1913 formte sich in einem Selzer Gastwirtkopf ein Gedanke: „Ich bräuchte mehr Platz für Feste, Veranstaltungen und „Vereinsmeierei“. Vielleicht ein zusätzliches Zimmer wie im inzwischen geschlossenen Gasthaus „Darmstädter Hof“ … oder besser noch, einen großen Raum wie in der Gaststätte „Zur Krone“ … oder besser noch, einen Tanzsaal mit Bühne wie im „Pfälzer Hof“ … oder vielleicht sogar - noch besser - eine große, hohe Festhalle mit Bühne, eigenem Eingang und einer beeindruckenden Empore“.
Gut .. natürlich können wir heute gar nicht wissen, was damals im Kopf von Heinrich Bingenheimer II., dem Besitzer des "Schützenhof", vorging. Aber zumindest muss er wohl erkannt haben, dass er gegenüber der benachbarten Konkurrenz „Zur Krone“ und „Pfälzer Hof“ entscheidend im Nachteil war. Wie auch bei den anderen Selzer Wirtschaften von Paul Steib, Christian Binzel V. (die spätere „Oligmühle“) und Philipp Andreas (später „Zum Selzer Frosch“) war sein Gastraum viel zu klein für große Veranstaltungen.
Jahrzehnte später, etwa um 1960, sollte Werner Andreas („André-Werner“) das gleiche Problem lösen, indem er neben dem Selzer Frosch auch die Turnhalle bewirtschaftete. Doch als Heinrich Bingenheimer über eine Lösung nachdachte, war der Bau der Turnhalle noch in weiter Ferne. Der kleine Mann, der mit seiner geringen Körpergröße den Spitznahmen seines Vorgängers „es Wertsche“ festigte und ihn dann sogar an seine Tochter weitergab, dachte auf jeden Fall ganz groß. Er plante nicht weniger als den Bau des größten Festsaals in Selzen.
Der Bedarf dafür war riesig. Der Fortschritt sorgte für immer mehr abendliche „Freizeit“ und Unterhaltungsbedürfnis bei den Dorfbewohnern. Aufgrund der fehlenden Mobilität suchte man die Zerstreuung und das Vergnügen vorrangig im Ort selbst. Zudem gründeten sich im Land überall Sportvereine, die wiederum Räumlichkeiten für ihre Körperertüchtigung brauchten. So fehlte auch dem 1903 in Selzen gegründete Turnverein eine geeignete Übungsstätte für die Wintermonate. 1912 hatte Selzen eine elektrische Straßenbeleuchtung bekommen. Damit verlängerte sich auch im Winter der nutzbare Tag.
Eine Auswahl von angekündigten Konzerten und Bällen in den Zeitungen von 1860/61.⁴
Bei ganz großen Festivitäten reichte der bisher größte Saal in Selzen nicht. So musste schon bei den Feierlichkeiten zur Einweihung der Zugstrecke 1896 die aufspielenden Musiker auf den "Pfälzer Hof" und die „Krone" verteilt werden, um genügend Platz für all die Tanzenden zu haben.
Heinrich Bingenheimer II., der erst vor wenigen Jahren den Schützenhof von der Witwe des Balthasar Binzel VI. übernommen hatte, beschloss also dies zu ändern.
Die Kathedrale des kleinen Mannes
Am 05. März 1914 befürwortete die Gemeindevertretung von Selzen den Saalbau von Heinrich Bingenheimer. In der Domhofstraße 6 befanden sich gegenüber des Gast- und Wohnhauses ein kleines altes Haus. Dieses wurde abgerissen und 1914 an deren Stelle ein neues Gebäude errichtet. Jeder Quadratzentimeter des verfügbaren Grundstücks wurde genutzt, weshalb das neue Gebäude weit entfernt war von einem regelmäßigen rechteckigen Grundriss.
Es bestand bis auf ein kleines Abstellzimmer aus nur einem einzigen großen, hohen Raum. Zum Hof hin hatte es zwei Zugänge. Den eigentlichen Haupteingang und eine kleine hintere Tür zum Schankbereich im Raum bzw. zum Toilettenhäuschen im Hof. Eine Treppe führt noch heute nach oben zu der kleinen L-förmigen Empore. Die Balustrade und Wände waren kunstvoll bemalt. Es muss ein lichtdurchfluteter Raum gewesen sein. Licht fiel durch jeweils drei ungewöhnlich große Fenster zur Straße und zum Hof hin und durch mindestens eines zum Nachbar. Mehr als die Hälfte der Öffnungen sind heute leider zugemauert und nicht mehr sichtbar.
Ein so großer und heller Bau – errichtet nicht für Gott, Herrschaften, Vieh oder Ernte, sondern rein für das Vergnügen. Das war etwas Neues für die Einwohner von Selzen.
Ein Saal für Alles und Alle
Aber zunächst brachte die neue Selzer Sehenswürdigkeit kein Glück. Die erste große Tanzveranstaltung war auch gleichzeitig für viele Jahre die Letzte.⁸ Der erste Weltkrieg brach aus und der Sinn stand nun nicht nach Tanzvergnügen. Erst ab 1919 fanden wieder Tanzveranstaltungen im Sälchen statt, bevor sich bereits ab 1928 das Geschehen immer mehr zur neu gebauten Turnhalle hin verlagerte.
1925 fanden sich im Schützenhof 26 Männer zusammen und gründeten den Radsportverein Selzen. Zu den Gründungsmitglieder zählten auch Heinrich Bingenheimer und Sohn Richard, deren Gaststätte zum Vereinslokal und deren Sälchen bis zur Fertigstellung der Radsporthalle im Jahr 1972 zur Trainingsstätte der Kunstradfahrer wurden.
Im Jahr darauf fand bereits das erste Saalsportfest im Schützenhof statt. Ab 1933 wurde im Sälchen beim Radball mit dem Drahtesel auch der runden Kugel hinterhergejagt.
Aber noch eine andere Kugel rollte im Sälchen. Nach Abbau der Bühne und Einstecken der Bandenbretter in die dafür vorgesehenen Aussparungen im Holzboden konnte auch gekegelt werden.⁸ Beim Anbau des heutigen Eingangsbereichs wurden unter dem Holzfußboden in einer Sandmulde alle neun Kegel der alten Kegelbahn gefunden. Auch eine Eisenplatte zum Aufstellen der Kegel gehörte zu dem Fund. Die Kegel waren kunstvoll verziert und geformt, aber über die Jahre stark verrottet. Der am besten erhaltene Kegel ist im Saal ausgestellt. Der Kegelsport wurde im Sälchen etwa von 1914 bis 1954 ausgeübt.
Überbleibsel der alten Kegelbahn.³
Auch andere Vereine waren hier beheimatet. Bereits um 1910, also schon vor dem Bau des Saals, sollen die Sänger vom Männergesangverein "Frohsinn 1861/81" vom Gasthaus "Zum Pfälzer Hof" in den "Schützenhof“ gewechselt sein. Dort üben, singen und feiern sie noch heute im mittlerweile gekauften „Sälchen“.
Ab Anfang der 70er erlernten viele Selzer und Jugendliche aus der Umgebung im Schützenhof in der Tanzschule bei Liesel Führ und Heinz(?) Zorn das Tanzen. Friedhelm Kissinger erinnert sich:
"Die Mädchen saßen aufgereiht links, die Buben rechts an der Wand. Wenn das Kommando kam spurtete man wie bei einem hundert Meter Sprint los, um die beste Partie zu machen."
Ebenso beliebt war später die „Wertsches-Disco“. Sie hieß damals natürlich nicht Disco, war aber im Prinzip dasselbe: Jugendliche tanzten nach Plattenmusik.⁸
Ein Filmtheater für Selzen
Fragt man aber ältere Generationen, welche Erinnerung sie am meisten mit dem Sälchen verbindet, dann haben die Antworten oft nichts zu tun mit Tanzveranstaltungen, Radsport, Kegeln oder Gesang. Die Gedanken gehen dann meist zurück in die Jahre von 1952 bis 1965. In die Zeit, in der sich das Sälchen jede Woche in das Selzer „Filmtheater“ verwandelte.
Anna Bingenheimer und Gruppe vor dem Eingang zum Kinoglück. Letztes Bild zeigt die Kinotoilette.¹
Der Saal konnte in diesen Jahren nur während der Woche für Versammlungen und Trainingseinheiten genutzt werden. Samstags und sonntags gehörte er unter anderem dem Cowboy Fuzzy, Freddy Quinn, Winnetou - dem Häuptling der Apachen, den Mädels vom Immenhof, Tarzan oder – wie passend - dem Frosch mit der Maske.
Abends wurden gerne Heimat- und Musikfilme gezeigt und danach zur späten Stunde oft ein Krimi. Am Nachmittag war die Kindervorstellung und ängstliche Kinder, die sich vor dem ungewohnten dunklen Kinoraum fürchteten, nahm die „Modder“ unter ihre Fittiche. Jugendliche setzten sich mit Schokokuss und Getränken auf die Empore und blieben meist einfach bis nach der Abendvorstellung sitzen.⁸
Ja, auch das machte das Kinoerlebnis aus. Die 1928 in die Familie eingeheiratete Anna Bingenheimer („Die Bingemern“, „Wertschese“, „Tanta Anna“ oder „Die Modder“) hatte nach dem Tod ihres Mannes Richard Bingenheimer 1960 die gegenüberliegende Wirtschaft übernommen und sorgte jetzt mit ihrer ganz eigenen Mischung aus resolutem und mütterlichem Regiment für die Versorgung der Kinogänger.
Siehe Beiträge "Wertsches-Anna und die Berschd" und "Denkwürdigkeiten zur Wertschesen".
Und zwar mit einem Service, der bei heutigen Kinobesuchern schiere Begeisterung auslösen würde. Eiskugeln (zugegeben ... vom abgelecktem Eisportionierer) in Muschelwaffeln oder Becher, die weltbesten harten Brezeln, Schokoküsse, „süßsaure Guzier in de spitz Dutt“, belegte Brötchen, Ültje-Erdnüsse, Makronen, „Sauergesprizte“ oder frischgezapftes Bier. Alles überhaupt kein Problem ... wenn es "Wertschese" es wollte. Außerdem wurde während der Vorführung geraucht, „dass es nur so qualmte“.
Film schlecht, Kino gut
Viele der Kinobesucher von damals können sich nicht besonders gut an die gesehenen Filme erinnern, viel eher an ihre Sitznachbarinnen und -nachbarn. Die gebürtige Selzerin Irmgard Müller erzählte im September 1999 Birgit Schenk von der Allgemeinen Zeitung von einem geläufigen Spruch aus ihrer damaligen Clique.⁷
„Der Film war nix, aber’s Kino war schön.“
Weiter erinnerte sie sich:⁷
„Wir saßen oft in der letzten Reihe und haben die ganze Zeit nur geblödelt“.⁷
Oft gab es daher etwas Stress mit den älteren Kinobesuchern, die im Parterre auf den harten Holzstühlen den Film in Ruhe schauen wollten. Aber weil die Eltern Ausflüge in die große Stadt nicht tolerierten, stand Irmgard, mitsamt ihren Altersgenossen, Samstag für Samstag an der Kasse vorm Kinosaal.⁷
„Für uns 14-, 15-Jährige war Anfang der 60er Jahr der Kinobesuch das einzige Wochenendvergnügen.“.
Der Raum war komplett bestuhlt und die Leinwand befand sich gegenüber des heutigen Eingangs. Etwa 100 Zuschauer passten in den Selzer Kinosaal. Unter den Zuschauern war auch Roland Best. In ihm ruft der Kinosaal Erinnerungen an große Gefühle wach, die aber nicht unbedingt immer mit dem Film zu tun hatten. ⁷
„Dort habe ich meine erste Freundin kennen gelernt“.
Und wie die meisten Selzer „Frischverliebten“ verzogen sich die Beiden natürlich bei jedem Besuch auf die extrem begehrten abseitigen Empore-Plätze. Vermutlich nicht nur zum Händchenhalten.⁷
Meine Mutter, Anni Bremler, hat es mal wunderbar treffend zusammengefasst und auf den Punkt gebracht.
„Wir waren oft im Sälchen zum Film schauen. Dann haben wir geheiratet und brauchten nicht mehr ins Kino zu gehen.“
Mehr gibt es – glaube ich – hierzu nicht zu sagen.
Die „Stimme der Welt“ tönt in Selzen
Es war Erna Schade, die gemeinsam mit ihrem Mann Hans zwischen 1952 und 1965 das Wanderkino im Selztal betrieb. Wanderkino deshalb, weil die Familie Schade gleich in acht Dörfern ihre Filme vorführten. Und wenn an einem Abend in mehreren Dörfern der gleiche Film auf dem Programm stand, brachte der Ülversheimer Motorradkurier Heinz Obermann innerhalb kürzester Zeit die Filmspulen von einer Spielstätte zur nächsten. 1957 eröffneten Erna und Hans zudem in Uelversheim ein festes Kino.⁷
Um für ihr Kino und ihre Filme zu werben, suchte die Familie Schade zentral liegende Plätze und Wände. Karola Elter erinnert sich:
„Mitte der 60er Jahre kam Herr Schade nach Hahnheim und hat ein Anwesen gesucht, wo er seine Kinoplakate aushängen durfte. Meine Eltern haben es erlaubt und so wurde an unserem Gartenzaun ein Schaukasten montiert und Herr Schade kam jeden Donnerstag, brachte Hochglanzbilder von den Filmen, die samstags und sonntags im Sälche gezeigt wurden. Als Gegenleistung hatten wir freien Eintritt ins Kino. Meine Mutter ging meistens Samstagabend mit ihrer Freundin in die Heimat-und Liebesfilme, während mein Bruder und ich am Sonntag in der Nachmittagsvorstellung die besten Plätze auf der Empore hatten.“
Auch in Selzen warb man an mehreren Stellen mit einem Aushang. Gisela (Gilla) Kissinger weiß noch:
„Am großen Tor unserer Scheune waren Kinoplakate angebracht, auf denen für den neusten Film in der Gastwirtschaft „Zum Schützenhof“ geworben wurde. Durch den regen Milchhandel mit viel Laufkundschaft in unserem Hof wurden die Filme bekannt und somit auch gut besucht. Unsere Familie hatte freien Eintritt zu allen Filmen dank der erfolgreichen Werbung. Ich erinnere mich noch an meinen allerersten Film. Es war ein Cowboy-Film mit Fuzzy.“
Siehe Beitrag "Nicht "Alles in Butter""
Vor dem Hauptfilm erklang immer die Fanfare der „Fox‘ tönende Wochenschau“ und die „Stimme der Welt“. Die Wochenschau war eine für das Kino wöchentlich neu produzierte Zusammenstellung von 30 Sekunden dauernden Filmberichten über Sportereignisse, Modetrends, Weltkatastrophen, Lebensgefühle und denkwürdige Ereignisse. Wer noch keinen Fernseher hatte und keine Nachrichtensendungen sah, konnte so zumindest etwas „uff de Gass mitrede“.
Fünfzig Pfennig kostete der Eintritt für Kinder. Erwachsene bezahlten für die „Ersten Plätze“ 1,50 Mark“ und für die „Zweiten Plätze“ eine Mark“.⁷ Das Selzer Kino war Kult und immer „gerammelde“ voll. Friedhelm Kissinger war auch dabei und erzählt:
„Die Besucherschlange vor dem Eingang schlängelte sich bei der Nachmittagsvorstellung oft bis in die Gaustraße hinein. Man hatte das Gefühl, alle Kinder des Ortes waren da."
Dann wurde das Fernsehen immer beliebter und die Fernsehgeräte zogen in die Wohnzimmer ein. Der Kinobesuch ging daraufhin stark zurück und der letzte Vorhang für das Filmtheater in Selzen fiel 1965.
Die letzte Vorstellung
Nein, nicht ganz richtig ... einmal noch erwachte der ehemalige und stillgelegte Kinosaal aus seinem Dornrösschen-Schlaf. Am 18. September 1999 zeigte, auf Initiative des damaligen VG-Chef Klaus Penzer, die Kunstinitiative Rheinhessen e.V. im Sälchen den Spielfilm „Camile Claudel“. Ausgesprochen schwierig war es damals, die Gerätschaften für diese Vorführung zu besorgen.⁷
Natürlich war auch dieses Mal das Selzer Filmtheater wieder bis auf den letzten Platz ausverkauft. Wie in alten Zeiten ... es fehlte nur unsere „Tante Anna“, die gute Seele des Schützenhof und unseres alten Selzer Kinos.
Das Sälchen heute.³
Auch wenn das Sälchen seine besten Zeiten lange hinter sich hat. Es war und bleibt Kult. Dafür sorgt auch der Männergesangverein Selzen mit seinen geselligen Veranstaltungen und den tollen Fastnachtssitzungen.
Steht man im Sälchen, atmet man Geschichte.
Bildquellen:
¹ Aus der im Haus zurückgebliebenen Foto-Sammlung von Anna und Richard Bingenheimer
² Reproduktionen aus der Sammlung Historischer Ansichtskarten von Selzen von Stefan Bremler
³ Fotografien von Stefan Bremler
⁴ Alte Zeitungsanzeigen von 1860/61, gefunden und reproduziert von Tanja Wischkowski (Vielen Dank!).
⁵ Aus "... und als Spätfilm lief ein Krimi", Allgemeine Zeitung, Landskrone, 18.09.1999, Artikel von Birgit Schenke
⁶ Privat
Textquellen:
⁷ Vgl. "... und als Spätfilm lief ein Krimi", Birgit Schenke, Allgemeine Zeitung, Landskrone, 18.09.1999
⁸ Vgl. "Wir gratulieren Frau Anna Bingenheimer zum 80. Geburtstag", Selzer Ortsschell Nr. 21, Juli 1985, Seite 1-2
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