... Sprach die Kanone zur Glocke.¹
Teil 2: Die Selzer Kirchenglocken und ihre wechselhafte Geschichte in Zeiten von Krieg und Frieden. Von 1919 bis 2019.
Das Zitat im Titel ist ein Auszug aus dem bekannten Gedicht „Die Schwestern“ von Christian Morgenstern (1871 – 1914). Morgenstern spricht hier einen unheiligen Zusammenhang zwischen Glocken und Kanonen an, der einerseits durch eine ähnliche Herstellungsart gegeben ist und andererseits durch die Praxis, in Kriegszeiten Glocken zur Produktion von Waffen einzuschmelzen. Der umgekehrte Weg, „Schwerter zu Flugscharen“ bzw. Kanonen zu Glocken umzugießen, ist dagegen fast immer ein frommer Wunsch geblieben.
Wie visionär das bereits 1905 veröffentlichte Gedicht war, habe ich bereits im Teil 1 meiner Glockenchronologie (1705 bis 1918) beschrieben. In der Nazi-Zeit wird es dann allerdings noch monströser. Folgen wir den Selzer Glocken weiter, sogar bis nach Hamburg und wieder zurück.
Nach dem „Großen Krieg“
Der 1. Weltkrieg und viele historische Glocken waren verloren.
"In Deutschlands Kampf um Ehr´ und Macht / Ward Glockenopfer froh gebracht. / Es war umsonst; in Not und Leid / Verging des Reiches Herrlichkeit."²
Überall wurden in den folgenden Jahren neue Glocken in Auftrag gegeben. Auch in Selzen.
Die Glocken der katholischen Gemeinde von Selzen vor dem 2. Weltkrieg
In den Kriegszeiten ging 1917 nur die 1857 von Thomas Molitor gegossene Bronze-Glocke mit dem Salbei-Schmuck (Marien-Glocke) verloren. Allerdings gaben die Selzer Katholiken bei der Firma Hamm in Frankenthal den Guss von zwei Glocken in Auftrag. Was aus der vorhandenen Eisen-Glocke wurde ist mir nicht bekannt.
1927 wurden zwei Glocken zum Preis von 550 Mark geliefert. Eine neue Marien-Glocke mit einem Gewicht von ca. 45 kg und dem Ton fis. Sie trug die Inschrift:
„Im Weltkrieg zerflossen / von Hamm neu gegossen / Maria so heiss ich / den grossen Gott preis ich.“
Und die Josefs-Glocke, aus Bronze mit Ton a und 50 kg schwer, mit dem aufgebrachten Text:
„Sankt Josef bin ich geweiht / und singe, bet und arbeit allzeit.“
Da die neuen Glocken größer und schwerer waren als die Vorgänger, mussten das Dach und der Dachreiter für 700 Mark umgebaut werden. Durch eine Festlegung auf die Töne G und A hätte sich das vermeiden lassen, doch dann hätten der Klang nicht zu dem Geläut der evangelischen Kirche mit den Tönen d, fis und a gepasst. ³
Falscher Ton von Josef
Die Glocken wurden am 28. Dezember 1927 feierlich geweiht. Allerdings stellten der Selzer und der Friesenheimer Organist schon drei Wochen später fest, dass die Josefs-Glocke auf den Ton b gestimmt war. Die Glockengießerei Hamm erklärte sich daraufhin bereit, die Glocke neu zu gießen. ³
Der Klang einer Glocke wird beim Guss festgelegt. Entscheidend für den Ton einer Glocke sind neben der Metalllegierung die drei Parameter: Durchmesser, Höhe und Wandstärke, die sogenannte Rippe. Je nach Größe dieser drei Parameter verändert sich der Ton. Damals wie heute muss beim Glockengießen ganz genau und präzise gearbeitet werden. Fehler verzeiht das Handwerk nicht: Ein falscher Ton im Kirchturm würde kilometerweit gehört.
Die Arbeiten an der Josefs-Glocke verzögerten sich erheblich, so dass die Selzer Gemeinde fast zwei Jahre, bis zum 30 Oktober 1929, warten musste, bis wieder zwei Glocken von der katholischen Kirche zu hören waren. Aber die Zeit lief schon wieder ab - die neue Marien-Glocke sollte schon bald so enden wie ihre Vorgängerin. ³
Wenn es diesmal nicht gelingt, sind wir bankrott
Wie die drei Glocken, die der Altbürgermeister Johann Georg Kessel der evangelischen Gemeinde Selzen 1887 spendete, waren auch die neuen Glocken der katholischen Kirche von 1927 bzw. 1929 von der Firma Hamm in Frankenthal gegossen worden. Die Glockengießerei Hamm war damals einer der bekanntesten Glockenhersteller Deutschlands. In der Werkstatt des Gründers Andreas Hamm (1824 bis 1894) wurden über 1500 größere Glocken hergestellt. Die bekannteste und zugleich größte davon war 1874 die Kaiserglocke (oder Gloriosa) für den Kölner Dom.
Dazu gibt es eine interessante Geschichte, die ich an dieser Stelle erzählen will.
27 Tonnen und 28 Mann
Das Kölner Domgeläut sollte um eine mächtige Glocke ergänzt werden, deren Gewicht auf 25 bis 27 Tonnen geschätzt worden war. Am 21. März 1872 bewilligte der Deutsche Kaiser Wilhelm I. die Überlassung von 25 Tonnen erbeuteter Geschützbronze aus dem siegreichen Deutsch-Französischen Krieg 1870/71. Den Auftrag für den Guss erhielt der Glockengießer Andreas Hamm aus Frankenthal.
Doch der erste Guss am 19. August 1873 misslang, weil die Menge des verwendeten Metalls falsch kalkuliert war und durch Luftblasen Hohlräume entstanden. Hamm ersann neue Entlüftungssysteme und am 13. November 1873 erfolgte ein zweiter Guss, der allerdings von einer Gutachterkommission als unbefriedigend betrachtete wurde. Hamm trug sich mit dem Gedanken, den Auftrag zurückzugeben. Fast ein Jahr nahm er sich dann Zeit, um einen dritten Versuch zu wagen. Zu seiner Familie sagte er: »Wenn es diesmal nicht gelingt, sind wir bankrott. 1874 wurde erneut gegossen, und der Guss gelang, auch wenn der gewünschte und vertragliche vereinbarte Schlagton immer noch nicht ganz erreicht wurde.
Die „Gloriosa“ oder „Kaiserglocke“ wog 27 Tonnen bei einem Durchmesser von 3,42 Meter und einer Höhe von 3,24 Meter. Sie war die drittgrößte Glocke der Welt und die weltgrößte freischwingende Glocke.
Zum Läuten mussten sich 28 Mann in die Seile hängen. Das Anläuten dauerte 12 bis 15 Minuten bis zum ersten vollen Glockenschlag. 30 Jahre lang misslangen die Versuche, wenigstens einen technisch einwandfreien Anschlag zu erzielen. Und weil sie deshalb immer seltener läutete, wurde sie im Volk „Große Schweigerin“ oder einfach „die Stumme von Köln“ genannt. Erst mit dem 1909 installierten elektrischen Läutewerk konnte die Kaiserglocke schneller und erstmals technisch einwandfrei angeschlagen werden. ⁴
Die Stumme schweigt für immer
Doch dann machte der 1. Weltkrieg auch keinen Halt vor des Kaisers Glocke. Im Juni 1918 bohrten Arbeiter Loch neben Loch in den Glockenmantel und schlugen die Kaiserglocke in Stücke, damit sie in die Schmelzöfen der Rüstungsindustrie wandern konnte. Aber was für eine Verschwendung - nur 4 Monate später kam das Kriegsende und so fand man ein Jahr später die nicht eingeschmolzenen Trümmer der größten Glocke der Welt auf einem Hamburger Glockenfriedhof. ⁴
Nur ca. 5% aller Hamm-Glocken haben die Kriege überstanden und sind erhalten, meist sind es die kleinsten Glocken eines Geläutes. Aus der Zeit bis zum Ersten Weltkrieg existieren unter anderem noch die Glocken in: ⁵
Worms, kath. Liebfrauenkirche, Geläute mit 1427, 1011 und 715 kg, von 1885,
Oppenheim, ev. Katharinenkirche, 425 kg, von 1856,
Wiesbaden, ev. Marktkirche, 405 kg, von 1862 und
Selzen, ev. Pfarrkirche, von 1887
… womit wir wieder bei unserem Thema wären.
Die Glocken der evangelischen Gemeinde von Selzen vor dem 2. Weltkrieg
Zwischen den beiden Kriegen gab es im Kirchturm der evangelischen Kirche keine großen Veränderungen. Im Gegensatz zur Kaiserglocke hatten alle vier Glocken den 1. Weltkrieg und die Glockenenteignung überstanden.
Nur das die Kinder-Glocke immer seltener traurige Nachrichten verkünden musste. Nach dem absoluten Hoch im Jahr 1870 sank die Kindersterblichkeit in Deutschland bis 1910 auf etwa 16 Kinder (von 100 Kinder), 1930 auf unter 10 und 1970 auf etwa 2,5. Ursache für den Rückgang waren der wachsende Wohlstand, konsequentes Stillen sowie beratende, soziale und hygienische Maßnahmen und auch die Kinderheilkunde. ⁶
Der Friedensruf im totalen Krieg
Doch dafür sollte bald ein anderes Massensterben beginnen. Im 2. Weltkrieg mussten die beiden größeren von Kessel gestifteten Glocken für die Fertigung von Geschosshülsen abgegeben werden.
Für über 10 Jahre war die kleinste der Hamm-Glocken die einzige Läuteglocke der evangelischen Kirche. Also ausgerechnet die Glocke, die mit ihrer Inschrift ein klares Statement zum dem Kriegswahnsinn um sie herum, gab:
„Ich rufe zum Frieden, o sei er hienieden, Euch allen beschieden“.
Das zweite Glockensterben
Metallspende zum Geburtstag des Führers
Da Deutschland von jeher bestimmte Rohstoffe importierte, galt es in Kriegszeiten, die nicht mehr beschaffbaren ausländischen Rohstoffe (z. B. Kupfer, Messing, Zinn, Zink und Eisen) als wichtige Rohstoffe der Rüstungsindustrie (z. B. zur Herstellung von Geschosshülsen) anderweitig im Inland zu beschaffen.
Bereits kurz nach Kriegsbeginn begannen die mit Rohstofffragen befassten Behörden des NS-Staats damit, Vorbereitungen für die Durchführung einer reichsweiten Metallsammlung zu treffen. Zunächst sollten Metallgegenstände aus öffentlichen Gebäuden und aus privaten Haushalten gesammelt werden. Um der Bevölkerung die Teilnahme an der Sammlung schmackhaft zu machen, wurde die Aktion im Frühjahr 1940 mit großem Propagandaaufwand als "Metallspende des Deutschen Volkes zum Geburtstag des Führers" am 20. April deklariert. Auf Anregung von Propagandaminister Joseph Goebbels erhielt jeder Spender eine Urkunde mit seinem Namen. Zu Tausenden brachten die Deutschen Kronleuchter, Kerzenständer und andere Metallgegenstände zu den rund 62.000 Sammelstellen im ganzen Reich.
Welch hoher Wert diesen Metallsammlungen beigemessen wurde, zeigt eine Verordnung, die zum Schutz der Metallsammlung des deutschen Volkes erlassen wurde: In der es unter anderem heißt: „Wer sich an gesammeltem oder von Verfügungsberechtigten zur Sammlung bestimmtem Metall bereichert oder solches Material sonst seiner Verwendung entzieht, schädigt den großdeutschen Freiheitskampf und wird daher mit dem Tode bestraft.“
Der erneute Griff nach den Glocken
Ein halbes Jahr später wurden die Überlegungen für eine reichsweite Glockenabnahme aufgenommen. Anlass waren die Vorbereitungen für den Angriff auf die Sowjetunion. Im Februar 1941 entschieden die Behörden deshalb, die Glocken im Reich und den besetzten Gebieten abzunehmen, um so dringend benötigtes Metall zu gewinnen. ⁷
Als kleines Zugeständnis wurde entschieden, jeweils eine Läute Glocke – meist die kleinste Glocke – in den Kirchen zu belassen. Zunächst wurden die Glocken in folgende Kategorien eingeteilt:
Gruppe A: sofort zur Verhüttung kommende,
Gruppe B und C: einstweilen bzw. weiter im Sammellager zurückzustellende und
Gruppe D: dauernd an Ort und Stelle zu erhaltende Glocken.
Tatsächlich sah es in der Praxis jedoch anders aus. Zur Gruppe A wurden alle Glocken nach 1800 sowie auch viele aus dem 16. bis 18. Jahrhundert gerechnet. Ferner sogar auch einige mittelalterliche Glocken. Reichsmarschall Hermann Göring wollte ursprünglich nur zwölf Glocken im gesamten Reich erhalten. ⁸
Über 100.000 Glocken vernichtet.
Nur wenige Glocken konnten gerettet werden. Insgesamt wurden bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs rund 102.500 Glocken abgehängt, von denen der Großteil auch eingeschmolzen wurde. Sie wurden auf den sogenannten Glockenfriedhof in Hamburg verbracht, dort eingeschmolzen und in ihre Grundbestandteile Kupfer und Zinn getrennt. Insgesamt wird der Verlust der Kirchenglocken für Deutschland auf 44 % im Ersten und auf 77% im Zweiten Weltkrieg beziffert. ⁸
Die Glocken der katholischen Gemeinde von Selzen nach dem Krieg
Die dritte Glockengeneration innerhalb 100 Jahren
Nach dem zweiten Weltkrieg sollte die vorhandene Josefs-Glocke umgegossen und eine Nachfolge-Glocke für die enteignete Marien-Glocke gegossen werden. Die Verträge dazu wurden bereits am 21. November 1945 wiederum mit der Glockengießerei Hamm unterzeichnet. Da eine enorme Anzahl an Glocken neu gegossen werden müssen verzögert sich die Ausführung erheblich. Am 12. November 1947 verspricht die Glockengießerei Hamm dem Pfarrer die Auftragserfüllung zum Ende des darauffolgenden Jahres. Mittlerweile wurde der Beschluss gefasst, die bronzene Josefs-Glocke doch nicht umzugießen.
Am 2. April 1951 dann endlich, wird die neue Glocke geliefert. Es ist eine Stahlglocke mit dem Ton fis, ohne Namen oder Inschrift, mit einem Gewicht von ca. 75 kg und einem Durchmesser von 52 cm. Damit war der Dachreiter wieder mit zwei Glocken bestückt und rief mehrstimmig zum Gebet. ³
Neue Glocken aber kein Turm
Im März 1968 wurden an der katholischen Kapelle umfangreiche Renovierungsarbeiten vorgenommen. Dabei musste leider der baufällige und beschädigte Dachreiter entfernt werden. Damit hatten die Josefs-Glocke von 1928 und die Stahlglocke von 1950 ihren angestammten Platz hoch über Selzen verloren. Sie wurden zwischenzeitlich bei einer Selzer Familie gelagert.
Wenn es die finanziellen Mittel erlauben würden war geplant, neben dem Gotteshaus einen freistehenden Glockenturm in der Art eines „Campanile" zu errichten. Dieser sollte dann die beiden Glocken aufnehmen. Mittlerweile sind beide Glocken bemalt und in der Kirche ausgestellt. Sie stehen im Gruppenraum und in der Nähe des Eingangs.
Da die finanzielle Lage die Errichtung eines Glockenturms bis heute nicht erlaubt hat, schweigen die Glocken seit nunmehr etwas über 50 Jahren. Auch eine Art Selzer Ökumene … die nebenan beheimateten Protestanten läuten einfach für die Katholiken mit. ³
Der hoffnungsvolle Klang der Glocken in dunkler Zeit
Welche Hoffnungen und Trost der Klang der Glocke bewirken kann, lesen die Nachkriegs-Deutschen in den Aufzeichnungen der Opfern des Nationalsozialismus.
In ihrem Versteck in Amsterdam schreibt Anne Frank im Juli 1942 in ihr Tagebuch:
„Vater, Mutter und Margot können sich noch immer nicht an das Geräusch der Westerturmglocke gewöhnen, die jede Viertelstunde angibt, wie spät es ist. Ich schon, mir hat es sofort gefallen, und besonders nachts ist es so etwas Vertrautes.“ Dann hält eine bedrohliche Stille Einzug und sie schreibt im August des Jahres 1943 ihre Empfindungen beim Schweigen der Glocken nieder. „Seit einer Woche sind wir alle ein bisschen durcheinander mit der Zeit, weil anscheinend unsere liebe und teure Westerturmglocke abgeholt worden ist…“ ⁹
In seinen Aufzeichnungen wird Dietrich Bonhoeffer im Gefängnis Tegel im Juni 1944 notieren:
„…Ich will die Wende der Zeiten sehen,
wenn leuchtende Zeichen am Nachthimmel stehen,
neue Glocken über die Völker gehen
und läuten und läuten ...“ ¹⁰
Und Inge Scholl wird aus dem Gefängnis in Ulm wenige Tage nach der Hinrichtung ihrer Geschwister Hans und Sophie schreiben:
„Lieber Vater! In der Zelle wird man hellhörig. Die Ohren nehmen dort mehr wahr als die Augen. Den Turm des Ulmer Münsters konnten wir nicht sehen, aber umso eindrucksvoller seine Glocken hören. "Was sie uns zutrugen, kann nur ihr Klang wiedergeben, es ist nicht in Worte zu übersetzen.
Die Münsterglocken waren das Jenseits der Zelle, verbindend, nicht trennend, tröstend, nicht verletzend. Sie bewegten die Luft, und die Wellen hoben uns über die Gitter weg, hinaus in die Welt.“ ¹⁰
Die Glocken der evangelischen Gemeinde von Selzen nach dem Krieg
Die wenigen Glocken, die nicht eingeschmolzen wurden, lagerten am Ende des Krieges auf "Glockenfriedhöfen". Der größte Lagerplatz dieser Art befand sich auf einem Gelände in der Nähe des Hamburger Hafens, wo nach der Kapitulation des Deutschen Reichs noch mehr als 10.000 Glocken auf den Schmelzofen warteten.
Nach Kriegsende hatten die amerikanische und britische Militärregierungen die deutschen Glocken und den Glockenbruch auf den „Glockenfriedhöfen“ in Hamburg, Hettstedt, Ilsenburg, Lünen und Oranienburg beschlagnahmt. Ein 1947 von den Alliierten gegründeter "Ausschuss für die Rückführung der Glocken (ARG) e.V." hatte den Auftrag, die organisatorischen Voraussetzungen für die Identifikation und für den Rücktransport von insgesamt 14 000 übrig gebliebenen Glocken zu schaffen und die aufgefundenen Glocken an die Kirchengemeinden in Deutschland und den ehemals besetzten Gebieten zurückgegeben. ¹¹
Selzer Kriegsheimkehrer der besonderen Art
Und tatsächlich … Selzen erhielt vom Ausschuss die Nachricht, dass die beiden Glocken der evangelischen Gemeinde, gestiftet von Kessel, gegossen von Hamm, in Hamburg aufgefunden wurden.
Sie sind noch da!
Die Freude darüber währte jedoch nur kurz. Durch den unsachgemäßen Transport und dem Auftürmen von Glocken zu Glockenpyramiden waren feine Risse entstanden und die Glocken konnten nicht mehr ohne einen Bruch zu riskieren geläutet werden. ¹²
Aber zumindest die Materialkosten konnten gespart werden. Aus dem Metall der alten Glocken entstanden die neuen Glocken. Mit dem Umguss war die Firma Rincker Glocken- und Kunstgießerei im hessischen Sinn beauftragt worden. Das sechsstimmige Geläut von 1960 für die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Berlin stellte den Höhepunkt der Gießerei Rincker dar.
1950 und 1952 kamen die beiden neuen Glocken dann nach Selzen. Mit einem Umzug unter reger Beteiligung der Selzer wurden die Glocken vom Bahnhof zum Kirchturm gebracht.
Glocke 1 hat einen Durchmesser von ca. 100 cm und die Inschrift:
Haltet an am Gebet (Roem 12:12), 1887 Selzen 1950
Die zweite und größere Glocken hat einen Durchmesser ca. 120 cm und sie ziert der Text:
O Land, Land, Land, hoere des Herrn Wort (Jer 22:29), 1887 Selzen 1950
Ein gefürchteter Ton verklingt für immer
Ausgedient hatte dann Ende der 60iger Jahre die Kinderglocke. Sie wurde bei der Elektrifizierung des Glockengeläutes abgehängt. Lange Zeit stand sie in schlechtem Zustand, verrostet und verschmutz, geprägt durch ihr Alter, lieblos auf zwei Steinen im Häuschen des alten Leichenwagens in der Friedhofstrasse. Im Jahre 1996 wurde die Kinderglocke von Reinhold Kissinger renoviert und sie bekam eine Standvorrichtung, in welcher die Glocke frei hängen und schwingen kann. ¹³
Seit 1968 gibt es für die Chronik nichts mehr zu berichten. Zum Schluß bleibt nur zu hoffen, dass die Stimmen der katholischen Glocken eines Tages wieder erklingen und unseren Glocken ein langes Läuten beschieden ist.
Trotzdem geht es weiter im dritten Teil der Glockenchronik, weil die ältesten Selzer Glocken gar nicht in Selzen sind!
Quellen:
¹ Auszug aus einem Gedicht von Christian Morgenstern, „Die Schwestern“ aus dem Gedichtband „Alle Galgenlieder“, 1917
² Glockeninschrift auf einer ehemaligen Glocke der Stadtkirche Wiesloch
³ Vgl. "Geschichte der Glocken", Handout zur Geschichte der katholischen Kapelle - Auslage beim Tag des Denkmals, Autor und Erscheinungsdatum nicht genannt
⁴ Vgl. Seite „Kaiserglocke“ in Wikipedia, die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 14. November 2018, 14:28 UTC. URL: https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Kaiserglocke&oldid=182749306
⁵ Vgl. G. Schneider, Glockensachverständiger im Bistum Mainz,
URL: https://www.heimatmuseum-nauheim.de/1150/1157/glockfam.htm
⁶ Vgl. Seite „Kindersterblichkeit“ in Wikipedia, die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 27. November 2019, URL: https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Kindersterblichkeit&oldid=194440332
⁷ Vgl. Steffen Zimmermann, Kirchenglocken für Hitler, Berlin 24.08.2018, URL: https://www.katholisch.de/artikel/18653-kirchenglocken-fuer-hitler
⁸ Klein, Zwangsenteignung der Kirchenglocken für die Kriegsrüstung, 01.03.2016, URL: https://blog.archiv.ekir.de/2016/03/01/zwangsenteignung-der-kirchenglocken-fuer-die-kriegsruestung/
⁹ Vgl. Kurt Kramer, Klänge der Unendlichkeit - Eine Reise durch die Kulturgeschichte der Glocke, Die Glocke zwischen Krieg und Frieden, URL:
https://www.welt-der-glocken.de/Zwischen-Krieg-und-Frieden.
¹⁰ Vgl. Beratungsausschuss für das Deutsche Glockenwesen, Kirchenamt der EKD, Redaktion Andreas Philipp,
¹¹ Seite „Ausschuss für die Rückführung der Glocken“ in Wikipedia, die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 21. September 2019, URL: https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Ausschuss_f%C3%BCr_die_R%C3%BCckf%C3%BChrung_der_Glocken&oldid=192460446
¹² Vgl. Selzen – Geschichte und Geschichten einer Selztalgemeinde, Hrsg. Bernhard Marschall und die Gemeinde Selzen, Oktober 2007, Seite 26
¹³ Vgl. Klaus Wiedemann, Selzer Ortsschell Nr. 48, SPD-Ortsverein Selzen, Oktober 1996
Sehr tolle Dokumentation. Gibt es einen Quellennachweis für das mittlere Bild, welches den Hamburger Glockenfriedhof zeigt? Steht da "BELGIEN" auf einigen Glocken? Viele Grüße Focko Meier