Käsgasse 6: Der Frieden kommt mit dem Fremden nach Selzen
Ein Beitrag von Marliese Reitzel zur Aktion "Selzer Häuser erzählen".
Es musste immer schnell gehen, wenn das pfeifende Geräusch zu hören war. Bei jeder Tages- und Nachtzeit. Da war keine Zeit zu verlieren, um möglichst schnell in den Keller in der Käsgasse 6 zu kommen.
Mitunter mussten wir längere Zeit dort verbringen bis zur Entwarnung. Meistens waren Oma und Opa – Anna und Adam Raab - die Ersten im Keller. Dann kam meine Mutter mit mir – Katharina Raab und Marliese -, nachdem ich festes Schuhwerk anbekam. Ohne feste Schnürschuhe geht das nicht in diesen unsicheren Zeiten, ordnete meine Mutter an. Die Tagesklamotten hatten wir bereits an. Wie immer in dieser Zeit trugen wir diese auch in der Nacht. Oma, Opa und meine Mutter hatten für Essensvorräte gesorgt und zwischen den Weinfässern Betten aufgebaut. Für mich ein Kinderbett.
Es war 1944/1945, fast am Ende des zweiten Weltkrieges. Die Bevölkerung wurde mit Sirenengeräusch aufgefordert, sich in Sicherheit zu bringen. Viele Menschen flüchteten in einen Keller oder Luftschutzbunker in ihrer Nähe, um dort Schutz vor herabstürzenden Bomben zu finden. Wir konnten unsern eigenen Weinkeller unterm Haus aufsuchen und uns zwischen den vollen Weinfässern einrichten
Oma verbrachte diese Zeit hauptsächlich mit Beten. Sie war fromm und der festen Überzeugung, dass Beten uns alle beschütze. Wenn Beten uns vor einem Blitzeinschlag bei starkem Gewitter bewahrt, dann gewiss auch vor einer amerikanischen oder britischen Bombe.
Eines Tages klopft es gegen Abend an die schwere Kellerholztür. Ungewöhnlich in dieser Gefahrenlage, weil die Menschen in den Kellern ausharren. Wenn Oma zwischen ihren Gebeten auf einen Schemel steigt und durch das Kellerfenster auf die Straße schaut, sieht sie keine Menschenseele.
Aber Opa nimmt allen Mut zusammen und vorsichtshalber ein Küchenmesser in die Hand, geht an die Tür, schiebt den Eisenriegel zur Seite und öffnet. Er kann im Dunkel schummrig eine Gestalt vor sich erkennen und macht das schwache Licht an der Kellertreppe an. Dann traut er seinen Augen nicht. Ein Mann, der offensichtlich aus einer abgebrannten Ruine kam und mit dunklem Ruß übersäht ist, steht vor ihm.
Bevor Opa eine Entscheidung treffen kann was zu tun ist, spricht der rußbedeckte Mann ihn an, was Opa nicht versteht. Auch Opa versucht ein paar Worte in seiner Verwirrung zu sagen, was jedoch der Fremde nicht versteht.
Opa hat zwar schon von Schwarzen Menschen gehört, aber noch nie in seinem Leben einen persönlich gesehen oder ihm gar gegenübergestanden.
Was wollte er von ihm und wie sollte Opa ihm helfen? Vielleicht abwaschen? Das Küchenmesser steckt Opa in seine Hosentasche. Die restlichen Familienmitglieder hatten sich hinter einem Weinfass verkrochen und von dort aus das Geschehen an der Kellertür beobachtet.
Aber nach dem dürftigen amerikanisch-deutschen Gespräch streckt der Besucher seine Hand aus und ergreift die Hand von Opa, drückt sie, verbeugt sich und verabschiedet sich lachend von Opa. Die so unglaublich weiß wirkenden Zähne des Soldaten im seinem Gesicht vergisst Opa nicht.
Erleichtert macht Opa das Licht an der Kellertreppe aus, schließt die Kellertür und schiebt den Riegel zu. Dann schaut er verdutzt seine rechte Hand an. Sie ist nicht rußgeschwärzt.
Diese Begegnung sorgte in der Familie für eine bleibende Erinnerung.
Bildquellen:
¹ Seite„Fliegeralarm“. In: Wikipedia, Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 11. September 2020, 00:45 UTC. URL: https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Fliegeralarm&oldid=203567924
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² 2 hochauflösende Luftbildaufnahme (Bildgröße 11.275 x 11.624) der Royal Air Force aus dem Jahr 1953, erworben und im Besitz von Stefan Bremler
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