Kanal, Kirchhof und Konfirmanden – Ein Selzer Leben in Stein gemeißelt
Die Gemarkung von Selzen war in den letzten 2 Jahrhunderten immer wieder Schauplatz von wissenschaftlich bemerkenswerten und auch kuriosen Funden. Exemplarisch seien hier nur der umfangreiche Münzschatz (siehe hier), das bedeutende fränkische Gräberfeld (von welchem noch zu berichten ist) oder die keltisch-römische Steindenkmäler (siehe hier) genannt.
Dies ist die Geschichte einer weiteren Entdeckung. Mit einem Fundstück, dass außergewöhnlich viel von sich und Selzen preisgibt und trotzdem wieder in Vergessenheit geraten ist.
Konfirmanden im Kanal
Der Grabstein ist bereits 159 Jahre alt, als er im April oder Mai 1963 entdeckt und ans Tageslicht geholt wird. Jugendliche des Konfirmandenjahrgangs 1963 entdeckten an der Ecke Bergstraße/Gaustraße einen behelfsmäßigen „Kanaldeckel“, der auf seiner Unterseite eine Inschrift besaß.
Und ... nein ..., ich weiß nicht, was die Konfirmanden in dem Kanalloch so getrieben haben. Aber wer sich hier angesprochen fühlt, darf sich gerne bei mir melden und die Wissenslücke schließen.
Da die Kanalisation in Selzen erst einige Zeit später kam, handelte es sich bei dem Kanal um eine frühe Wasserleitung. Womöglich die Wasserleitung, die von der Brunnenstube (siehe hier), seitlich der Landstraße nach Mommenheim, hinab floss zur „Gussebump“, der alten Wasserentnahmestelle an der Ecke Gaustraße/Tränkgasse. Manchmal dienten solche Steine gerne auch als „Brückelchen“, also eine Überquerungshilfe eines wasserführenden Grabens.
Wie dem auch sei. Aber als Jugendlicher, der sich seinerzeit in der Vorbereitungszeit zum Glaubensbekenntnis befand, wusste man sehr genau, an wen man sich bezüglich des Steins zu wenden hatte. Zumal der damalige Pfarrer sich gerade intensiv mit der Chronik unseres Dorfes beschäftigte.
Ein vielsagender Fund
Otto Böcher (siehe hier) war nur drei Jahre Pfarrer in Selzen, aber mit seiner kurzen und vielfach veröffentlichten Abhandlung „Selzen – Geschichte eines rheinhessischen Dorfes“ sollte er später das nachhaltige Interesse der Selzer Bürger an Ihrer reichhaltigen Ortsgeschichte wecken.
Eben jener eilte zum Fundort und untersuchte die Abdeckplatte. Diese erwies sich als das größere Bruchstück eines historischen Grabsteins mit dem Maßen von 83 (Höhe) mal 66 (Breite) cm. Um den Stein für seine neue Zweckbestimmung anzupassen, hatte man in der Vergangenheit leider den oberen Teil, wahrscheinlich halbkreisförmig und vielleicht wappengeschmückt, abgeschlagen.
Dieser groben Veränderung fielen auch die ersten drei bis vier Zeilen der Inschrift zum Opfer. Geblieben ist dennoch – und das macht den Grabstein so bemerkenswert – eine reichhaltige Beschreibung eines Lebens. Und diese ist trotz des Alters, zweckentfremden Verwendung und Aussetzung der Feuchtigkeit bis auf die letzte Zeile verblüffend gut lesbar. Sorgfältig eingemeißelt ist dort in der meist von Kupferstecher verwendeten Typografie, dem vornehmen klassizistischen Antiqua, zu lesen:
... Den 3ten December. Ihr Vater war ... Bartholomäus Besant Bür ger und Beckermeister dahier in Selßen. Ihre Mutter hat geheißen Maria Christi na und war eine gebohrene von Gmün din. Sie hatte sich verheurathet den 22ten Mai 1781 mit CASPAR ZIMERMANN. Des Iacob Zimermanns Ehlich ledigen Sohn; lebten 23 Jahre und 2 Monath in fruchtbarer Ehe; Zeugten 2 Töchter, welche bald wider gestorben sind. Sie starb im Jahr Christi 1804 den 22ten Juli und brachte ihr Leben auf 50 Jahr 7 Monathe und 19 Tage. Ihr ... und Sohn ...
Die fast ganz zerstörte letzten Zeile enthielt ursprünglich wohl den Namen des Sohnes. Unglücklicherweise fehlt ausgerechnet aber auch der Name der Verstorbenen. Wie heißt die Tote, deren Leben hier so ausführlich vor uns ausgebreitet wird?
Lücken werden gefüllt
Zurück im Pfarrhaus recherchierte Otto Böcher im Selzer Sterberegister und fand in einer Eintragung am „zweiten Thermidor zwölften Jahres“ die Antwort. Böchers Vorgänger von einst – der Selzer Pfarrer Heinrich Wilhelm Dilg, wiederum Enkel und Sohn seiner beiden Vorgänger – hatte bei seinen Eintragungen den französischen Revolutionskalender verwendet. Nicht von ungefähr – Selzen gehörte von 1798 bis 1804 zu Frankreich.
Im Sterberegister stand:
„Am zweiten Thermidor zwölften Jahres starb in Selzen Maria Elisabetha Zimmermännin geborene Bösang, Ehefrau des Bürgers Caspar Zimmermann zu Selzen, geboren in Selzen am 3. Dezember 1753“.
Das mit „im Jahr Christi 1804“ auf dem Grabstein nicht die Zählweise des französischen Revolutionskalenders benutzt wurde, sondern die christliche Jahreszählung, könnte darauf hindeuten, dass die Inschrift erst nach der französischen Episode in Rheinhessen erstellt wurde.
Anders als heute war die unterschiedliche Schreibweisen der Nachnamen nicht ungewöhnlich. Besant, Bösang oder auch Boesand – alles die gleiche Familie. Und aus dem Namen Zimmermann wird bei einer Frau der Nachname Zimmermännin. Sozusagen eine Art von kuriosem frühzeitlichen Gendern.
Steinreiche Selzer
Waren diese sogenannten „Sprechenden Steine“, die mit ihrer Inschrift derart wortreich vom Leben der Verstorbenen Zeugnis ablegten, gang und gäbe? Wohl eher nicht. Vieles spricht dafür, das es sich bei der verewigten Maria Elisabetha um eine „bessergestellte“ Selzerin handelte. Die Qualität des Steines weist darauf hin und auch die Herkunft und ehelichen Verbindungen der Eltern.
Ihr Vater, im Trauregister Johann Barthel Boesand genannt, zog von Bubenheim nach Selzen um 1745 ihre Mutter Maria Christina zu ehelichen. Doch diese war keine unbedeutende Person. Den Otto Böcher fand weiter heraus, dass Maria Christina Boesand, geb. von Gemünd bereits schon einmal in Selzen verheiratet war. Sie war die Witwe des Johann Fluck von Selzen. Die Familie Fluck war eine sehr namhafte und einflussreiche Linie. Der Schultheiß (Bürgermeister) in Selzen in den Jahren um 1619 und 1717 hieß Caspar Tobias Fluck und Adam Fluck. Und so erklärt sich vielleicht der für Selzer Verhältnisse aufwendige Stein, der womöglich gar kein Grabstein ist, sondern ein sogenannter Epitaph, also ein zum Grab gehörendes Gedächtnismal, welches an Friedhofs- oder Kirchenmauer angebracht war.
Während die Nachnamen Besant (bzw. Bösang oder Boesand) und Fluck in Selzen „ausgestorben“ sind, ist der Name Zimmermann noch immer präsent.
Nochmal unter die Erde gebracht
Bleibt zuletzt die Frage, wie der Stein in die Bergstraße gekommen ist. Ältere Mitbürger und Mitbürgerinnen können sich vielleicht noch erinnern. 1962 wurde der, von der Kirche aus gesehen, rechte Teil des alten Friedhofs aufgeschüttet. Die dort stehenden Grabsteine wurden zum großen Teil umgestoßen und unter den neuen Erdmassen begraben. Eine heute schaudern machende Vernichtung von aufschlussreichen und wertvollen alten Steinen. Ich hoffe sehr, dass diese eines Tages ebenfalls wieder ans Tageslicht gebracht werden können.
Aber was hat das mit unserem Stein zu tun? Nun, fast genau 100 Jahre zuvor (im Jahr 1861) hatte man dasselbe mit der linken Friedhofseite getan. Da der Friedhof aber weiter genutzt wurde, dürften die Steine abgeräumt worden sein. Aber wie praktisch ... 1863 wurde die Wasserleitung zur Gussebump errichtet und für die Kanalabdeckung Steine benötigt. Es ist nicht ausgeschlossen, dass hier mehr der alten Grabsteine Verwendung fanden und noch immer in der dunklen Erde auf ihre Wiederentdeckung warten.
Apropos dunkel:
Der faszinierende „sprechende“ Stein der Maria Elisabetha Zimmermännin, geboren in Selzen im Jahr 1753, steht heute vergessen zwischen Besen und "Schippe" hinter der Tür des Glockenturms der evangelischen Kirche. Gut geschützt aber etwas unwürdig für die wahrscheinlich älteste Inschrift Selzens.
Quellen:
- Fotografien und Darstellung "Stammbaum"von Stefan Bremler
- Prof. Dr. theol. Dr. phil. Otto Hermann Konrad Böcher († 2020): "Wertvoller alter Grabstein dient als Kanaldeckel". Allgemeine Zeitung 08.05.1963
Zur Transkription und erweiterten Informationen zum
„sprechenden Stein der Zimmermannin“ darf ich folgendes beitragen:
Die Anfertigung des Steines ist frühstens nach dem 2.8.1800 erfolgt.
Dies ergibt sich aus dem Sterbedatum des Bartholomäus Besant am
14. thermidor VIII Jahres (= 2.8.1800 gregor. Kalender) und dem bisher nicht transkribierten, vor Bartholomäus Besant stehenden, durch […] angedeuteten Wortes weil.[and] .
Bartholomäus Besant war bei der Herstellung des Grabsteins/Epitaphs bereits „weiland“, also verstorben. Geboren ist er am 4.8.1720 in Bubenheim als Sohn des Sebastian Besand und Magdalena.
Seine Heirat in Selzen mit (Anna) Maria Christina von Gemünden war am 13.5.1745.
Sie war die 3. (!) Ehefrau des Johannes Flück aus Selzen und stammte ebenfalls aus Bubenheim. Dort geboren am 20.1.1715 als Tochter Christians von…