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AutorenbildStefan Bremler

Das unbekannte Kunstwerk

Aktualisiert: 11. Feb. 2021

Die Geschichte hinter dem Ölgemälde „Das Pfarrhaus in Selzen“ und wie ein bedeutender Künstler aus Darmstadt sein Motiv ausgerechnet in Selzen fand.


Das Rätsel aus der Selzer Festschrift von 1982


Vor 37 Jahren habe ich es zum ersten Mal gesehen und bewundert. In der „Festschrift zur 1200-Jahrfeier der Gemeinde Selzen“ versteckte sich zwischen all den Grußworten, den regionalen Werbeanzeigen und dem Programm der Festtage ein kleiner Schatz.

Auf Seite 29 war die schwarz-weiße Abbildung eines Ölgemäldes zu sehen – der evangelische Pfarrhof in Selzen, gemalt von August Lucas (1803 – 1863). ¹



Weitere Hinweise oder Erklärungen gab es nicht. Auch nicht, warum dieses Bild in der „Festschrift“ auftauchte und nicht in dem gleichzeitig erschienen „Jubiläumsbuch“, dass sich doch explizit mit der Geschichte von Selzen befasste.

Mit dem Start dieser Blogseite wurde meine Neugier und der Ehrgeiz, das Geheimnis um das Bild zu lösen, neu geweckt. Ziel war es vor allem herauszufinden, wo sich das Bild befindet, es „zu besuchen“ und eine Farbfotografie zu erstellen.

Der Künstler – bedeutend aber in finanziellen Nöten


Am einfachsten war es, etwas über den bedeutenden, aber gleichwohl inzwischen fast vergessenen, Künstler herauszufinden.

August Lucas (* 4. Mai 1803 in Darmstadt; † 28. September 1863 in Darmstadt) war ein deutscher Grafiker und Landschaftsmaler der Romantik.


Selbstbildnisse von August Lucas (um 1820, 1831,1840): ⁴


Der Sohn eines Schneidermeisters besuchte das Darmstädter Gymnasium und erhielt frühen künstlerischen Unterricht an der Museumszeichenschule in Darmstadt und in der Münchner Kunstakademie.


Nachdem er sich autodidaktisch weitergebildet hatte, reiste Lucas mit einem Stipendium des Darmstädter Großherzogs im Oktober 1829 nach Rom. Er blieb 5 Jahre in Italien und zeichnete unter anderem in Rom, den Albaner Bergen, Neapel, Sorrent und Capri. Gegen Ende seines Aufenthalts wurde er krank und geriet in finanzielle Schwierigkeiten.


Daher kehrte Lucas 1834 nach Darmstadt zurück malte hier auf der Grundlage seiner italienischen Studien Gemälde südlicher Landschaften sowie Darstellungen aus der Umgebung Darmstadts, vom Odenwald und der Bergstraße.


Er prägte das künstlerische Leben seiner Heimatstadt entscheidend mit und war Mitbegründer des Rheinischen Kunstvereins und der Allgemeinden Deutschen Kunstgenossenschaft. Nach kurzer Krankheit starb August Lucas am 28. September 1863 in seiner Heimatstadt. Sein, von Freunden 10 Jahre später errichtetes, Ehrengrab befindet sich auf dem alten Friedhof in Darmstadt. Auf der berühmten Mathildenhöhe in Darmstadt erinnert seit 1903 der Lucasweg an den wichtigen Künstler. ²


Obwohl er als geachteter Künstler durchaus Bilder und Zeichnungen verkaufte, illustratorische Aufträge für Verlage erledigte und seine Werke in diversen Ausstellungen gezeigt wurden, begleiteten ihn zeitlebens finanzielle Probleme. Seine Versuche, sich eine bequeme materielle Existenz aufzubauen, blieben erfolglos. ⁵

Und so war er gezwungen, sich - trotz Anstellungen als Zeichenlehrer an zwei Darmstädter Schulen - sein Einkommen mit Auftragsarbeiten aufzubessern. Eine dieser Aufträge führte ihn dann 1855 nach Selzen.

Aber, wo ist dieses Gemälde abgeblieben?


Die Suche nach dem Bild gestaltete sich dagegen etwas schwieriger. Nachfragen in Selzen, in Darmstädter Museen und bei der Evangelische Kirche in Hessen und Nassau blieben erfolglos.


Der Durchbruch kam mit der Post. Ich hatte mir die Biografie des wohl berühmtesten Sohnes von Selzen, Johannes Kessel (ihm wird in Kürze ein eigener Beitrag gewidmet), zusenden lassen. In dem Buch „Ich holte meine Prager Schriften“: Leben und Werk des Otologen Johannes Kessel (1839 – 1907)" war das Kunstwerk abgebildet und der jetzige Eigentümer genannt. ³

Demnach ist das Gemälde im Besitz der Familie Wernher und befindet sich im alten Adelshaus „Haxthäuser Hof“ in Nierstein. Die Wernhers sind eine alte und zeitgeschichtliche sehr bedeutsame Familie.

Zu ihren bekanntesten Vorfahren zählen Johann Wilhelm Wernher (1767-1827), Regierungsrat, Geheimer Staatsrat, Winzer und Richter des Schinderhannes-Prozesses und sein Sohn Philipp Wilhelm Wernher (1802-1887), hessischer liberaler Politiker, Winzer und Mitglied der Nationalversammlung in der Paulskirche in Frankfurt.


Geschenke und Trost für die Braut


Warum ist das Bild im Besitz der Familie Wernher und warum Selzen und sein Pfarrhof? Nun, hierzu fand ich eine Erklärung in dem Buch "Kunst in Hessen und am Mittelrhein", auch bestätigt durch das Wernher-Familienarchiv.


Eben jener letztgenannte Philipp Wilhelm Wernher heiratete nach dem Tod seiner ersten Frau am 11. September 1835 in Selzen Katharina Wernher, geborene Dilg (1810–1865). Katharina war die Tochter des Kirchenrats und Pfarrers von Selzen, Heinrich Wilhelm Dilg (1770-1857). ³ ⁶


Aus erster Ehe hatte Philipp Wilhelm Wernher 3 Kinder. Eines dieser Stiefkinder von Katharina Wernher (Dilg), nämlich Julie Wernher (1828-1904), heiratete am 08. Mai 1856 in Darmstadt den Oberleutnant und späteren Major und Vizepräsident in der Frankfurter Nationalversammlung, Carl Ludwig Valentin Friedrich Theodor Reh (1826-1884). Angeblich konnte die Familie seiner Mutter ihre Abstammung sogar auf den Reformator Dr. Martin Luther zurückführen. ⁶

Das Gemälde des Selzer Pfarrhofs, also in dem Fall des Elternhauses der Stiefmutter, war 1856 das Geschenk des Darmstädter Bräutigams Theodor Reh an seine auserwählte Julie Wernher. ⁷ Dieses und zwei weitere Gemälde sollten wohl den Abschied aus Nierstein erleichtern und als Trost das Heimweh mildern.

Denn tatsächlich wurden sogar drei Gemälde (!) bei August Lucas in Auftrag gegeben. Einige Zeit hatte ich - ohne Kenntnis der Hintergrundgeschichte - die Hoffnung, es gäbe weitere Ansichten von Selzen. Jedoch zeigen das zweite Bild den Niersteiner Marktplatz mit dem Haxthäuser Hof im Hintergrund und das dritte Kunstwerk eine Dorfansicht von Nierstein.


Auf allen Kunstwerken ist das Künstlerzeichen (Monogramm) von August Lucas erkennbar.

Nicht nachweislich ist dagegen, ob sie das Heimweh der Julie Wernher Reh wirklich lindern konnten und wie oder wann die Bilder von Darmstadt zurück ins Stammhaus der Wernhers nach Nierstein kamen.



Nebenbei: Ein Enkel aus der ersten Ehe von Philipp Wilhelm Wernher wird 1883 Elise Kessel aus Selzen heiraten. Und das ist auch der Grund, warum diese Geschichte in der Biografie von Johannes Kessel Erwähnung fand. ³


Ein Stück Selzen, 163 Jahren an Darmstädter und Niersteiner Wänden


Am 15. November 2019, und damit 163 Jahre nach der Hochzeit und 37 Jahre nach dem Erscheinen der Festschrift, war ich in der Weinstube im Haxthäuser Hof und durfte später das Bild in den Privaträumen ansehen und fotografieren.


Mission erfüllt: Ich freue mich, dass ich es der Selzer Öffentlichkeit in bestmöglicher Qualität und womöglich auch zum erstem Mal in Farbe zeigen kann.


Pfarrhof in Selzen, Ölgemälde von August Lucas, 1855

Das im Original relativ kleine Bild (25 x 35 cm) zeigt in bäuerlichem Idyll den Pfarrhof von 1770 (Neubau, zumindest aber umfassender Umbau) mit seinen Nebengebäuden. Die Scheune rechts, wie das Herrenhaus im großzügigen spätbarocken Stil erbaut, wurde leider 1966 abgerissen. Im Vordergrund ahnt die kaum befestigte "Wassergass" noch nicht, dass sie als Gaustraße zu einer der meistbefahrenen Straßen Rheinhessens werden wird.


O.k. ich bin als Selzer leicht befangen ... aber ich finde das Bild grandios.



Quellen:


Zunächst gilt meinem besonderen Dank dem Eigentümer Carl Udo Wernher und seiner Familie in Nierstein, die es mir ermöglicht haben, das Bild zu sehen und zu fotografieren.


Alle Ölgemälde von August Lucas, (1803 – 1863), Darmstadt

¹ Vgl. Festschrift zur 1200-Jahrfeier der Gemeinde Selzen, 1982, Seite 29

² Vgl. Stadtlexikon Darmstadt - Lucas, August, Peter Märker, 2016

https://www.darmstadt-stadtlexikon.de/l/lucas-august.html

³ Vgl. „Ich holte meine Prager Schriften“: Leben und Werk des Otologen Johannes Kessel (1839 – 1907) Herausgegeben von Rüdiger Hoffmann, Lutz-Peter Löbe und Wieland Pfeiffer (Studientexte zur Sprachkommunikation), TUDpress, 2016

⁴ Vgl. August Lucas - wer Engel sucht, Herausgegeben von Ralf Beil und Philipp Gutbrod, Ausstellungskatalog Mathildenhöhe Darmstadt, 2013

⁵ Vgl. August Lucas: der realistische Romantiker, Kerstin Schumacher, Echo Lokalredaktion Darmstadt, https://www.echo-online.de/lokales/darmstadt/august-lucas-der-realistische-romantiker_19597377

⁶ Vgl. Wernher-Archiv- Mitteilungen der Familie für die Familie, Carl Wernher, 1906

⁷ Vgl. Kunst in Hessen und am Mittelrhein, Hessisches Landesmuseum in Darmstadt und Stattliche Kunstsammlungen in Kassel, Andreas Franzke,1972

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