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Helga Jung

Ich bitte zum Tanz

Aktualisiert: 21. Jan. 2022

Gaustr. 8: Wo die Jungen aus der Reihe tanzten und die Älteren über den Durst tranken.


Ein Beitrag von Helga Jung, Undenheim, zur Aktion "Selzer Häuser erzählen".



Guten Tag liebe Selzer und Leser,

ich bin das Haus in der Gaustraße 8.


Wie ihr an einem meiner Fensterstürze sehen könnt, wurde ich 1826 von J. Binzel erbaut.


Nun bin ich bald 200 Jahre alt und habe viele Generationen von Binzels kommen und gehen gesehen. Meine Familie wurde, zur Unterscheidung der vielen Binzel-Familien, die „Michel- Binzels“ genannt.


 

Nebenbei bemerkt:


Früher gab es die Familiennamen Kissinger und Binzel noch viel häufiger als heute. Deshalb hatten die Familien (Beinamen" oder wie man auch sagte "Annahmen" (=angenommener Name). Beispiele für Binzel:


Peter-Hannese: Joh. Peter Binzel, wohnte in der Weyerstraße.

Kapeller: Heinrich Binzel, wohnte in der Kapellenstraße 14. Großvater von Werner Binzel.

Metzger-Peter: Peter Binzel, von Beruf Metzger. Wohnte in der Weyerstraße.

Ohligmühle: Christian Binzel, Landwirt, Gastwirt und Ölmüller.

Krämer: Christian Binzel, Gaustr. 24, hatte ein Lebensmittelgeschäft


(aus "Selzen - Bilder aus vergangenen Tagen, 1900-1945", 1989)

 

In meinen jungen Jahren war ich unter dem Namen "Pfälzer Hof" eine „Werdschafd" (Wirtschaft), also heute sagt man ja Gaststätte dazu. Im kompletten Obergeschoss, über dem Torhaus, war der große Tanzsaal.


An der Kerb war immer ganz schön was los. Die jungen Selzer trafen sich zum Tanz und die Älteren tranken im Gastraum ihren Wein oder ihr Bier ...

... womöglich aus diesem Eisschrank (um 1900).


 

Nebenbei bemerkt:


Vor und nach dem Krieg befand sich der Kerbeplatz gegenüber der Schmiede Jung "an der Gussepumb". Da einige Gasthäuser ("Pfälzer Hof", "Zur Krone" und "Zum Schützenhof") sich in unmittelbare Nähe zum Kerbeplatz befanden, war es fast logisch, dass hier gefeiert wurde. Der Verkehr auf der Straße war damals so schwach gewesen, dass er keine Rolle spielte.


Weitere bekannte Groß-Ereignisse im "Pfälzer Hof":

27. Juni 1886: Feierlichkeiten zum 25-jährigen Jubiläum des Männergesangvereins "Frohsinn 1861/1884".

01. Oktober 1896: Feierlichkeiten zur Einweihung der Bahnlinie Bodenheim-Odernheim.

20. Februar 1903: Gründung des "Turnvereins Selzen 1903".


(aus "Selzen - Geschichte und Geschichten einer Selztalgemeinde", 2007 und

"Jubiläumsbuch zur 1200-Jahrfeier Selzen", 1982)

 

1897 wurde ich umgebaut und vergrößert. Die Familie hatte vier kleine Söhne und brauchte mehr Platz. Seit dieser Zeit bin ich Wohnhaus und Teil eines Bauernhofes.


Hinter dem hohen Hoftor sind Scheune, Ställe, Wein- Kartoffel und Rübenkeller, Kelterhaus und der obligatorische Misthaufen mitten im Hof. Die Binzel-Familie hält zu dieser Zeit Kühe, Schweine, Hühner, Enten, Gänse, Katzen und ein Pferd und versorgt sich weitgehend selbst.


Trotz meines hohen Alters bin ich bis zum heutigen Tag noch fast ursprünglich erhalten. Die Binzels waren über die Generationen mit Umbauten eher sparsam.


Beweis?

Festumzugs des Turnvereins 1928 ¹
Auch fast 100 Jahre später ... die gleiche imposante Hausfront.

So gibt es noch immer das sogenannte Säalchen (Tanzsaal), sowie zwei große Zimmer der ehemaligen Wirtschaft, mit einer Deckenhöhe von knapp vier Meter. Aus den Fenstern kann man nur mit Hilfe einer kleinen Treppe sehen, da sie sich in zwei Meter Höhe befinden. Diese Zimmer waren der Verwandtschaft, bzw. den Schwiegersöhnen in spe vorbehalten.


Im Säalchen hingegen wurde ab den 50igern „Frucht“ (Getreide) von der Ernte bis zum Verkauf gelagert. In dieser Zeit spielten die Kinder, sehr zum Leidwesen der Eltern und Großeltern darin. Das war eine sehr staubige Angelegenheit. Später wurde Wäsche auf lang gespannten Drahtseilen getrocknet. Und wieder war es Spielplatz für Versteck spielen unter Bettlaken oder Nachlauf, wenn es draußen regnete.


Den Krieg gegen Frankreich und die beiden Weltkriege habe ich praktisch unbeschadet überstanden. Da ich sehr groß bin, wurden nach dem zweiten Krieg ausgebombte Mainzer mit ihren Familien bei mir einquartiert.


Als meine letzten Bewohner Hugo und Elisabeth verstorben sind, rechnete ich mit meinem Verkauf. Aber nun zog eine Enkelin der Beiden mit ihrer Familie bei mir ein und ich freue mich, dass ein weiterer Spross mit Binzel-Genen mein Bewohner ist.


Und ... sie machen mich derzeit wieder richtig schön und wissen meine interessante altersbedingte Erscheinung und innere Schönheit zu schätzen.




Bild-Quellen:

Alle Fotografien von Stefan Bremler, außer

¹ Bild aus den Buch: Selzen - Bilder aus vergangenen Tagen 1900-1945. Gemeinde Selzen, Horb am Neckar, 1989.

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