Gaustraße 12: Vom Hufschmied zum Metallbau - wie Selzer Tradition die Zeit überdauerte.
Ein Beitrag von Anke, Volker und Friedel Jung im Rahmen der Aktion "Selzer Häuser erzählen".
Vom Kuhstall an die Gussebumb
Als Philipp Gustav Jung 1927 in einem angemieteten Kuhstall in der Tränkgasse als Huf- und Wagenschmied mit Meisterbrief seine Werkstatt eröffnete, war das ein Segen für die Landwirte und Pferdebesitzer. Die Pferde brauchten regelmäßig neue Hufe aus Eisen, an den Gerätschaften der Landwirte musste immer wieder repariert und ausgebessert werden. So kam es, dass sowohl die Schmiede als auch der Hof davor gefüllt war mit Landwirten, Karren und Pferden.
Ehemalige Kunden auf dem Weg zur Arbeit ... oder zum Schmied? ¹
Das änderte sich auch nicht mit der neuen Schmiede nach dem Umzug bereits zwei Jahre später (1929) in die Gaustraße 12, gegenüber der „Gussebumb“. Philipp Jung hatte das Haus, erbaut im Jahr 1821, von der Familie Heinrich Geil gekauft und dort, ebenfalls im Kuhstall, seine Schmiede eingerichtet.
Nicht mal im Traum hätte er sich zu diesem Zeitpunkt vorstellen können, wie oft die nun benachbarte „Gussebumb“ noch umgefahren und bei seinen nachfolgenden Firmengenerationen auf dem Arbeitstisch liegen würde.
Nebenbei bemerkt:
In früheren Zeiten hatte jedes noch so kleine Dorf mindestens einen eigenen Schmied und Wagner (oder Stellmacher). Ohne diese beiden Berufe war bis Mitte des 20. Jahrhundert eine funktionierende Landwirtschaft nicht denkbar.
Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass der ehemalige Berufsname mit "Schmidt“ nach „Müller“ der zweithäufigste Nachname in Deutschland ist und "Wagner" hier den achten Platz belegt.
Die private Gewerbesteuerliste der "Bürgermeisterey Selzen" für das Jahr 1828 weist in diesem Zusammenhang aus:
Reck Johann, Hufschmied mit 1 Gesellen und Faßeicher
Hinkel Balthasar, Wagner ohne "Gehülfe"
Das "Landes-Adressbuch für das Großherzogtum Hessen, II. Band: Provinz Rheinhessen" aus dem Jahr 1906 nennt für Selzen:
Reck Jakob IV., Schmied
Schneider Jakob Michael, Schmied
Kissinger Johann(es) VII., Schmied
Hinkel Balthasar IV., Wagner
Schleich Johann(es), Wagner
Auch nach Kriegende bis Anfang der 1970er Jahre gab es noch die Handwerksbetriebe in Selzen, die für eine Selbstversorgung der Bevölkerung unverzichtbar waren. Die Werkstatt des Wagners befand sich direkt neben dem heutigen Standort des Rathauses in der Kaiserstraße. Dieser hat nicht nur Räder und Fuhrwerke für die Landwirtschaft hergestellt, sondern auch Holzleitern für den täglichen Gebrauch.
Von den ehemals 2 Schmieden ist nur noch die Schmiede Jung vorhanden. Der Inhaber der anderen Schmiede - Preissler – war ein reiner Hufschmied.
Mit Einzug der Schlepper, Traktoren und Maschinen starb der Beruf des Wagenmachers nahezu aus. Einige seiner Aufgaben verlagerten sich zum Schmied hin, dessen Berufsstand sich aber auch zunehmend andere Geschäftsfelder suchen musste.
Es ist ein kleines Wunder und auch ein besonderes Privileg für Selzen, dass eine „unserer“ Schmieden den veränderten Zeiten und Entwicklungen jetzt schon in der 3. Generation und seit fast 100 Jahren trotzen kann.
Tierische Probleme
Bevor er sich selbständig machte, wollte sich Philipp Jung ansehen, wie es in großen Firmen so zuging. Und so fuhr er eine Zeitlang mit dem Fahrrad täglich nach Gustavsburg zur MAN (Maschinenfabrik Augsburg-Nürnberg), wo er Schiffsschrauben für die Rheinschifffahrt herstellte. Und zu Opel nach Rüsselsheim, wo er weniger mit Pferden als mit Pferdestärken zu tun hatte.
Nun wurden ihm in die Schmiede mitunter auch Ziegen gebracht, die von ihm die „Fußnägel" geschnitten bekamen. Zu lang gewachsenes Horn, was die Ziege beim Laufen hinderte. Philipp Jung ging geschickt mit den Tieren um und löste auch diese Probleme.
Eine Erinnerung an MAN-Zeit findet sich auch heute noch in der Schmiede. Die schönen Fenster stammen aus einem Abbruch und lassen viel Tageslicht in den ehemaligen Kuhstall und jetzigen alte Schmiede.
Sie sind andererseits aber auch ein putztechnischer Albtraum.
Die neusten „Schlag“zeilen
Die Ruhe, die Philipp Jung ausstrahlte, übertrug sich auf die Besucher. Keiner hatte es eilig, nach Hause zu kommen. Nirgendwo sonst war der Austausch von Neuigkeiten aktueller als in der Schmiede beim „Schmitt“.
Meistens brannte die Esse und brachte ein Stück Eisen zum Glühen. Ein prüfender Blick zeigte Philipp Jung, wann er es auf dem Amboss zu bearbeiten hatte. Weder Mensch noch Tier störten die Hammerschläge von Philipp Jung.
Der 192 kg schwere Amboss, zweimal gebrochen und wieder gerichtet, steht heute noch im ehemaligen „kappengewölbten“ Kuhstall. An ihm haben sich schon so einige Männer bei „Weghebe-Wetten“ abgemüht und die Klamotten "versaut".
Dort steht auch noch der alte Schleifstein. Kurioserweise montiert auf einem Unterteil eines Weltkriegs-Flakgeschützes aus Hahnheim.
Hier wurden solche „Kleinigkeiten" wie das Schärfen der Gartenhacke fast kostenlos zwischendrin ohne Wartezeiten erledigt. Danach gefragt, was seine Arbeit kostet, antwortete er stets ...
... „geb mer zwansisch Penning".
Weitere Maschinen der „ersten Stunden“, wie die Bohrmaschine von 1928, sind heute noch funktionstüchtig und kommen gelegentlich bei Sonderaufträgen zum Einsatz.
(Hinweis: Die Bilder aus der alten Schmiede wurden leicht bearbeitet, um ihre erlebte Geschichte(n) und die Faszination, die dieser Ort ausstrahlt, sichtbarer werden zu lassen.) ²
Hilfe auch bei „kleinen“ Blechschäden
Spätestens seit 1961 firmierte der Betrieb unter dem Namen Philipp Jung und Sohn. Und nach 38 Jahren übernahm 1965 Sohn Friedel als Schmiedemeister den florierenden väterlichen Betrieb.
Auch er ging seine Arbeit mit Ruhe und Gelassenheit an. Er hatte eine Anziehungskraft auch auf kleine Kinder von nicht mal 3 Jahren. Die kamen mit ihren Kinderautos zu ihm und zeigten auf eine Stelle mit dem Hinweis „bud". Friedel reparierte und führte die Kinder über die Straße nach Hause. Ein Umzug dieser Kinder wäre nicht infrage gekommen. Ein Ort oder gar eine Stadt ohne Schmied, das ging gar nicht.
Schlepper statt Gaul
Der Dienst an Pferden wurde immer weniger. Deshalb wurden fast nur noch Reparaturen an landwirtschaftlichen Maschinen durchgeführt. Zu den üblichen Tätigkeiten eines Schmiedes kam dann neben der Reparatur von Landmaschinen zunehmend die Anfertigung von schmiedeeisernen Toren, Treppen und Fenstergittern hinzu.
Schnell bot der alte Kuhstall nicht mehr genug Platz für die immer größer werdenden Arbeitsmittel, Maschinen, Werkstoffe und Auftragsobjekte. Und so wurde der hintere Teil des Hofes und der ehemalige Schweinestall überdacht und zur Montagehalle ausgebaut.
Und die Aufträge gingen immer höher. Zumindest bei diesem einen ganz besonderen, der Friedel Jung auf die Spitze des höchsten Daches in Selzen brachte. ³
Das Meisterstück über der Einfahrt
1996 übernahm mit seinem Sohn Volker die dritte Generation die Schmiede.
Sein Meisterstück ist weithin sichtbar und ziert die Hausfront. ²
Volker Jung hat sich inzwischen auf Metallbau spezialisiert und die Angebotspalette beinhaltet nun Tore, Treppen, Geländer, Industrie- und Garagentore, Brandschutztüren, Stahlkonstruktionen aller Art, Fenstergitter, Überdachungen, Reifendienste, Schlepperreperaturen, Schlüsseldienst und vieles mehr.
Aber Friedel ist mit seinen 90 Jahren noch immer in der Schmiede. Sie ist sein Leben. Auch er hält es beim Hackenschärfen 2021 wie sein Vater Philipp. Wird er nach seinem Preis gefragt, sagt er ...
... „geb mer en Euro.“
Volker Jung hat die Schmiede inzwischen ebenfalls mit umfangreichen Um- und Anbauten erweitert, um ausreichend Platz für Material und Arbeitsflächen für seine mittlerweile 4 Mitarbeiter zu haben.
Nur eines hat sich bis auf den heutigen Tag nicht geändert. Hier gibt es noch das, leider immer seltener gewordene, traditionelle „Handwerk“, dass jeden noch so ausgefallenem Kundenwunsch erfüllt und umsetzt. Noch immer kann der Nachbar mit der Hacke zum Schärfen kommen oder seinen Edelstahl-Topf für kleines Geld zur Reparatur bringen.
Und ... natürlich kann man auch immer noch das Neuste erfahren.
Aber nach all den ereignisreichen Jahren, noch viel mehr alte, geradezu unglaubliche Anekdoten aus der Selzer Geschichte.
Bilder-Quellen:
¹ Bilder aus Bildband "Selzen - Bilder aus vergangenen Tagen 1900-1945", Gemeinde Selzen, 1989
² Bilder und Grafik von Stefan Bremler
³ Bilder und Urkunde von der Familie Jung
⁴ Bild aus Jubiläumsband "Selzen - Geschichte und Geschichten einer Selztalgemeinde", Bernd Marschall und Gemeinde Selzen, 2007
Die Entwicklung der Darstellung des Schmiedehandwerks erinnert mich an meine Kindheit und Jugendzeit in meinem Geburtsort Kasel im Ruwertal. Die Winzerbetriebe, Weingüter und Landwirte waren wichtige Kunden bei beiden Schmieden, die wiederum im starker Konkurrenz zueinander standen. Die aufkommenden Bedarfe im Bereich der Sanitärinstallation in den 1950/60er Jahren und der Rückgang des Pferdebeschlagens wg. Aufkommender Traktor-Ausstattung führten zu neuen Geschäftsfeldern und damit auch Ausbildungsberufen.
Gute Darstellung, vielen Dank.
Reinhold Longen
Mainz
Ehrhardstr. 13